Werke
zu einem Fehler des Stoffes machen; vielleicht dürfte er sagen, Merope müsse ja wohl den Aegisth mit eigner Hand umbringen wollen, oder der ganze Coup de Théatre, den Aristoteles so sehr anpreise, der die empfindlichen Athenienser ehedem so sehr entzückt habe, falle weg. Aber der Herr von Voltaire würde sich wiederum irren, und die willkürlichen Abweichungen des Maffei abermals für den Stoff selbst nehmen. Der Stoff erfordert zwar, daß Merope den Aegisth mit eigner Hand ermorden will, allein er erfordert nicht, daß sie es mit aller Überlegung tun muß. Und so scheinet sie es auch bei dem Euripides nicht getan zu haben, wenn wir anders die Fabel des Hyginus für den Auszug seines Stücks annehmen dürfen. Der Alte kömmt und sagt der Königin weinend, daß ihm ihr Sohn weggekommen; eben hatte sie gehört, daß ein Fremder angelangt sei, der sich rühme, ihn umgebracht zu haben, und daß dieser Fremde ruhig unter ihrem Dache schlafe; sie ergreift das erste das beste, was ihr in die Hände fällt, eilet voller Wut nach dem Zimmer des Schlafenden, der Alte ihr nach, und die Erkennung geschieht in dem Augenblicke, da das Verbrechen geschehen sollte. Das war sehr simpel und natürlich, sehr rührend und menschlich! Die Athenienser zitterten für den Aegisth, ohne Meropen verabscheuen zu dürfen. Sie zitterten für Meropen selbst, die durch die gutartigste Übereilung Gefahr lief, die Mörderin ihres Sohnes zu werden. Maffei und Voltaire aber machen mich bloß für den Aegisth zittern; denn auf ihre Merope bin ich so ungehalten, daß ich es ihr fast gönnen möchte, sie vollführte den Streich. Möchte sie es doch haben! Kann sie sich Zeit zur Rache nehmen, so hätte sie sich auch Zeit zur Untersuchung nehmen sollen. Warum ist sie so eine blutdürstige Bestie? Er hat ihren Sohn umgebracht: gut; sie mache in der ersten Hitze mit dem Mörder was sie will, ich verzeihe ihr, sie ist Mensch und Mutter; auch will ich gern mit ihr jammern und verzweifeln, wenn sie finden sollte, wie sehr sie ihre erste rasche Hitze zu verwünschen habe. Aber, Madame, einen jungen Menschen, der Sie kurz zuvor so sehr interessierte, an dem Sie so viele Merkmale der Aufrichtigkeit und Unschuld erkannten, weil man eine alte Rüstung bei ihm findet, die nur Ihr Sohn tragen sollte, als den Mörder Ihres Sohnes, an dem Grabmale seines Vaters, mit eigner Hand abschlachten zu wollen, Leibwache und Priester dazu zu Hülfe zu nehmen – O pfui, Madame! Ich müßte mich sehr irren, oder Sie wären in Athen ausgepfiffen worden.
Daß die Unschicklichkeit, mit welcher Polyphont nach funfzehn Jahren die veraltete Merope zur Gemahlin verlangt, eben so wenig ein Fehler des Stoffes ist, habe ich schon berührt. (42) Denn nach der Fabel des Hyginus hatte Polyphont Meropen gleich nach der Ermordung des Kresphonts geheiratet; und es ist sehr glaublich, daß selbst Euripides diesen Umstand so angenommen hatte. Warum sollte er auch nicht? Eben die Gründe, mit welchen Eurikles, beim Voltaire, Meropen itzt nach funfzehn Jahren bereden will, dem Tyrannen ihre Hand zu geben, (43) hätten sie auch vor funfzehn Jahren dazu vermögen können. Es war sehr in der Denkungsart der alten griechischen Frauen, daß sie ihren Abscheu gegen die Mörder ihrer Männer überwanden und sie zu ihren zweiten Männern annahmen, wenn sie sahen, daß den Kindern ihrer ersten Ehe Vorteil daraus erwachsen könne. Ich erinnere mich etwas ähnliches in dem griechischen Roman des Charitons, den d’Orville herausgegeben, ehedem gelesen zu haben, wo eine Mutter das Kind selbst, welches sie noch unter ihrem Herzen trägt, auf eine sehr rührende Art darüber zum Richter nimmt. Ich glaube, die Stelle verdiente angeführt zu werden; aber ich habe das Buch nicht bei der Hand. Genug, daß das, was dem Eurikles Voltaire selbst in den Mund legt, hinreichend gewesen wäre, die Aufführung seiner Merope zu rechtfertigen, wenn er sie als die Gemahlin des Polyphonts eingeführet hätte. Die kalten Szenen einer politischen Liebe wären dadurch weggefallen; und ich sehe mehr als einen Weg, wie das Interesse durch diesen Umstand selbst noch weit lebhafter, und die Situationen noch weit intriguanter hätten werden können.
Doch Voltaire wollte durchaus auf dem Wege bleiben, den ihm Maffei gebahnet hatte, und weil es ihm gar nicht einmal einfiel, daß es einen bessern geben könne, daß dieser bessere eben der sei, der schon vor Alters befahren worden, so begnügte er sich auf jenem ein Paar Sandsteine
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