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Werke

Werke

Titel: Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gotthold Ephraim Lessing
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Kräfte nicht übersteigen, wenn ich mir ein Werk zu machen vorsetzte, wo die Entwicklung gleich in der ersten Szene verraten würde, und aus diesem Umstande selbst das allerstärkeste Interesse entspränge. – Für den Zuschauer muß alles klar sein. Er ist der Vertraute einer jeden Person; er weiß alles was vorgeht, alles was vorgegangen ist; und es gibt hundert Augenblicke, wo man nichts bessers tun kann, als daß man ihm gerade voraussagt, was noch vorgehen soll. – O ihr Verfertiger allgemeiner Regeln, wie wenig versteht ihr die Kunst, und wie wenig besitzt ihr von dem Genie, das die Muster hervorgebracht hat, auf welche ihr sie bauet, und das sie übertreten kann, so oft es ihm beliebt! – Meine Gedanken mögen so paradox scheinen, als sie wollen: so viel weiß ich gewiß, daß für eine Gelegenheit, wo es nützlich ist, dem Zuschauer einen wichtigen Vorfall so lange zu verhehlen, bis er sich eräugnet, es immer zehn und mehrere gibt, wo das Interesse gerade das Gegenteil erfodert. – Der Dichter bewerkstelliget durch sein Geheimnis eine kurze Überraschung; und in welche anhaltende Unruhe hätte er uns stürzen können, wenn er uns kein Geheimnis daraus gemacht hätte! – Wer in einem Augenblicke getroffen und niedergeschlagen wird, den kann ich auch nur einen Augenblick betauern. Aber wie steht es alsdenn mit mir, wenn ich den Schlag erwarte, wenn ich sehe, daß sich das Ungewitter über meinem oder eines andern Haupte zusammenziehet, und lange Zeit darüber verweilet? – Meinetwegen mögen die Personen alle einander nicht kennen; wenn sie nur der Zuschauer alle kennet. – Ja, ich wollte fast behaupten, daß der Stoff, bei welchem die Verschweigungen notwendig sind, ein undankbarer Stoff ist; daß der Plan, in welchem man seine Zuflucht zu ihnen nimmt, nicht so gut ist, als der, in welchem man sie hätte entübrigen können. Sie werden nie zu etwas Starkem Anlaß geben. Immer werden wir uns mit Vorbereitungen beschäftigen müssen, die entweder allzu dunkel oder allzu deutlich sind. Das ganze Gedicht wird ein Zusammenhang von kleinen Kunstgriffen werden, durch die man weiter nichts als eine kurze Überraschung hervorzubringen vermag. Ist hingegen alles, was die Personen angeht, bekannt: so sehe ich in dieser Voraussetzung die Quelle der allerheftigsten Bewegungen. – Warum haben gewisse Monologen eine so große Wirkung? Darum, weil sie mir die geheimen Anschläge einer Person vertrauen, und diese Vertraulichkeit mich den Augenblick mit Furcht oder Hoffnung erfüllet. – Wenn der Zustand der Personen unbekannt ist, so kann sich der Zuschauer für die Handlung nicht stärker interessieren, als die Personen. Das Interesse aber wird sich für den Zuschauer verdoppeln, wenn er Licht genug hat, und es fühlet, daß Handlung und Reden ganz anders sein würden, wenn sich die Personen kennten. Alsdenn nur werde ich es kaum erwarten können, was aus ihnen werden wird, wenn ich das, was sie wirklich sind, mit dem, was sie tun oder tun wollen, vergleichen kann.«
    Dieses auf den Aegisth angewendet, ist es klar, für welchen von beiden Planen sich Diderot erklären würde: ob für den alten des Euripides, wo die Zuschauer gleich vom Anfange den Aegisth eben so gut kennen, als er sich selbst; oder für den neuern des Maffei, den Voltaire so blindlings angenommen, wo Aegisth sich und den Zuschauern ein Rätsel ist, und dadurch das ganze Stück »zu einem Zusammenhange von kleinen Kunstgriffen« macht die weiter nichts als eine kurze Überraschung hervorbringen.
    Diderot hat auch nicht ganz Unrecht, seine Gedanken über die Entbehrlichkeit und Geringfügigkeit aller ungewissen Erwartungen und plötzlichen Überraschungen, die sich auf den Zuschauer beziehen, für eben so neu als gegründet auszugeben. Sie sind neu, in Ansehung ihrer Abstraktion, aber sehr alt in Ansehung der Muster, aus welchen sie abstrahieret worden. Sie sind neu, in Betrachtung, daß seine Vorgänger nur immer auf das Gegenteil gedrungen; aber unter diese Vorgänger gehört weder Aristoteles noch Horaz, welchen durchaus nichts entfahren ist, was ihre Ausleger und Nachfolger in ihrer Prädilection für dieses Gegenteil hätte bestärken können, dessen gute Wirkung sie weder den meisten noch den besten Stücken der Alten abgesehen hatten.
    Unter diesen war besonders Euripides seiner Sache so gewiß, daß er fast immer den Zuschauern das Ziel voraus zeigte, zu welchem er sie führen wollte. Ja, ich wäre sehr geneigt, aus diesem Gesichtspunkte die

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