Werke
mehr eine Falte haben, die ihm nur allein zukömmt, als der Charakter dieses natürlichen Sohnes? »Gleich nach meiner Geburt, läßt er ihn von sich selbst sagen, ward ich an einen Ort verschleidert, der die Grenze zwischen Einöde und Gesellschaft heißen kann; und als ich die Augen auftat, mich nach den Banden umzusehen, die mich mit den Menschen verknüpften, konnte ich kaum einige Trümmer davon erblicken. Dreißig Jahre lang irrte ich unter ihnen einsam, unbekannt und verabsäumet umher, ohne die Zärtlichkeit irgend eines Menschen empfunden, noch irgend einen Menschen angetroffen zu haben, der die meinige gesucht hätte.« Daß ein natürliches Kind sich vergebens nach seinen Ältern, vergebens nach Personen umsehen kann, mit welchen es die nähern Bande des Bluts verknüpfen: das ist sehr begreiflich; das kann unter zehnen neunen begegnen. Aber daß es ganze dreißig Jahre in der Welt herum irren könne, ohne die Zärtlichkeit irgend eines Menschen empfunden zu haben, ohne irgend einen Menschen angetroffen zu haben, der die seinige gesucht hätte: das, sollte ich fast sagen, ist schlechterdings unmöglich. Oder, wenn es möglich wäre, welche Menge ganz besonderer Umstände müßten von beiden Seiten, von Seiten der Welt und von Seiten dieses so lange insulierten Wesens, zusammen gekommen sein, diese traurige Möglichkeit wirklich zu machen? Jahrhunderte auf Jahrhunderte werden verfließen, ehe sie wieder einmal wirklich wird. Wolle der Himmel nicht, daß ich mir je das menschliche Geschlecht anders vorstelle! Lieber wünschte ich sonst, ein Bär geboren zu sein, als ein Mensch. Nein, kein Mensch kann unter Menschen so lange verlassen sein! Man schleidere ihn hin, wohin man will: wenn er noch unter Menschen fällt, so fällt er unter Wesen, die, ehe er sich umgesehen, wo er ist, auf allen Seiten bereit stehen, sich an ihn anzuketten. Sind es nicht vornehme, so sind es geringe! Sind es nicht glückliche, so sind es unglückliche Menschen! Menschen sind es doch immer. So wie ein Tropfen nur die Fläche des Wassers berühren darf, um von ihm aufgenommen zu werden und ganz in ihm zu verfließen: das Wasser heiße, wie es will, Lache oder Quelle, Strom oder See, Belt oder Ozean.
Gleichwohl soll diese dreißigjährige Einsamkeit unter den Menschen, den Charakter des Dorval gebildet haben. Welcher Charakter kann ihm nun ähnlich sehen? Wer kann sich in ihm erkennen? nur zum kleinsten Teil in ihm erkennen?
Eine Ausflucht, finde ich doch, hat sich Diderot auszusparen gesucht. Er sagt in dem Verfolge der angezogenen Stelle: »In der ernsthaften Gattung werden die Charaktere oft eben so allgemein sein, als in der komischen Gattung; sie werden aber allezeit weniger individuell sein, als in der Tragischen.« Er würde sonach antworten: Der Charakter des Dorval ist kein komischer Charakter; er ist ein Charakter, wie ihn das ernsthafte Schauspiel erfodert; wie dieses den Raum zwischen Komödie und Tragödie füllen soll, so müssen auch die Charaktere desselben das Mittel zwischen den komischen und tragischen Charakteren halten; sie brauchen nicht so allgemein zu sein als jene, wenn sie nur nicht so völlig individuell sind, als diese; und solcher Art dürfte doch wohl der Charakter des Dorval sein.
Also wären wir glücklich wieder an dem Punkte, von welchem wir ausgingen. Wir wollten untersuchen, ob es wahr sei, daß die Tragödie Individua, die Komödie aber Arten habe: das ist, ob es wahr sei, daß die Personen der Komödie eine große Anzahl von Menschen fassen und zugleich vorstellen müßten; da hingegen der Held der Tragödie nur der und der Mensch, nur Regulus, oder Brutus, oder Cato sei, und sein solle. Ist es wahr, so hat auch das, was Diderot von den Personen der mittlern Gattung sagt, die er die ernsthafte Komödie nennt, keine Schwierigkeit, und der Charakter seines Dorval wäre so tadelhaft nicht. Ist es aber nicht wahr, so fällt auch dieses von selbst weg, und dem Charakter des natürlichen Sohnes kann aus einer so ungegründeten Einteilung keine Rechtfertigung zufließen.
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Neun und achtzigstes Stück
Den 8ten März, 1768
Zuerst muß ich anmerken, daß Diderot seine Assertion ohne allen Beweis gelassen hat. Er muß sie für eine Wahrheit angesehen haben, die kein Mensch in Zweifel ziehen werde, noch könne; die man nur denken dürfe, um ihren Grund zugleich mit zu denken. Und sollte er den wohl gar in den wahren Namen der tragischen Personen gefunden haben? Weil diese Achilles, und Alexander,
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