Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
gekommen. Sie erschien mit Tränen in den Augen und beteuerte, daß sie an unserem Unglück großen Anteil nehme. Sie bemitleidete uns lebhaft, äußerte sich dann aber dahin, daß Papa an unserem ganzen Mißgeschick schuld sei: er habe gar zu hoch hinaus gewollt und gar zu sehr auf seine eigene Kraft gebaut. Ferner äußerte sie als »einzige Verwandte« den Wunsch, uns näher zu treten, und machte den Vorschlag, Gewesenes zu vergessen. Als Mamadarauf erwiderte, daß sie nie irgendwelchen Groll gegen sie gehegt habe, weinte sie sogar vor lauter Rührung, führte Mama in die Kirche und bestellte eine Seelenmesse für den »toten Liebling«, wie sie den Entschlafenen plötzlich nannte. Darauf versöhnte sie sich in aller Feierlichkeit mit Mama.
Dann, nach langen Vorreden und Randbemerkungen und nachdem sie uns in grellen Farben unsere ganze hoffnungslose Lage klargemacht, von unserer Mittel-, Schutz- und Hilflosigkeit gesprochen hatte, forderte sie uns auf, ihr Obdach mit ihr zu teilen, wie sie sich ausdrückte. Mama dankte für ihre Freundlichkeit, konnte sich aber lange nicht entschließen, der Aufforderung Folge zu leisten, doch da uns nichts anderes übrig blieb, so sah sie sich zu guter Letzt gezwungen, Anna Fedorowna mitzuteilen, daß sie ihr Anerbieten dankbar annehmen wolle.
Wie deutlich erinnere ich mich noch jenes Morgens, an dem wir von der Petersburger Seite nach dem anderen Stadtteil, dem Wassilij Ostroff, übersiedelten! Es war ein klarer, trockener, kalter Herbstmorgen. Mama weinte. Und ich war so traurig: es war mir, als schnüre mir eine unerklärliche Angst die Brust zusammen … Es war eine schwere Zeit …
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II.
Anfangs, so lange wir uns noch nicht eingelebt hatten, empfanden wir beide, Mama und ich, eine gewisse Bangigkeit in der Wohnung Anna Fedorownas,wie man sie zu empfinden pflegt, wenn einem etwas nicht ganz geheuer erscheint. Anna Fedorowna lebte in ihrem eigenen Hause an der Sechsten Linie. Im ganzen Hause waren nur fünf bewohnbare Zimmer. In dreien von ihnen wohnte Anna Fedorowna mit meiner Kusine Ssascha, die als armes Waisenkind von ihr angenommen war und erzogen wurde. Im vierten Zimmer wohnten wir, und im letzten Zimmer, das neben dem unsrigen lag, wohnte ein armer Student, Pokrowskij, der einzige Mieter im Hause.
Anna Fedorowna lebte sehr gut, viel besser, als man es für möglich gehalten hätte, doch ihre Geldquelle war ebenso rätselhaft wie ihre Beschäftigung. Und dabei hatte sie immer irgend etwas zu tun und lief besorgt umher, und jeden Tag fuhr und ging sie mehrmals aus. Doch wohin sie ging, mit was sie sich draußen beschäftigte und was sie zu tun hatte, das vermochte ich nicht zu erraten. Sie war mit sehr vielen und sehr verschiedenen Leuten bekannt. Ewig kamen welche zu ihr gefahren und immer in Geschäften und nur auf ein paar Minuten. Mama führte mich jedesmal in unser Zimmer, sobald es klingelte. Darüber ärgerte sich Anna Fedorowna sehr und machte meiner Mutter beständig den Vorwurf, daß wir gar zu stolz seien: sie wollte ja nichts sagen, wenn wir irgendeinen Grund, wenn wir wirklich Ursache hätten, stolz zu sein, aber so!… und stundenlang fuhr sie dann in diesem Tone fort. Damals begriff ich diese Vorwürfe nicht, und ebenso habe ich erst jetzt erfahren, oder richtiger,erraten, weshalb Mama sich anfangs nicht entschließen konnte, Anna Fedorownas Gastfreundschaft anzunehmen.
Sie ist ein schlechter Mensch, diese Anna Fedorowna. Ewig quälte sie uns. Aber eins ist mir auch jetzt noch ein Rätsel: wozu lud sie uns überhaupt zu sich ein? Anfangs war sie noch ganz freundlich zu uns, dann aber kam bald ihr wahrer Charakter zum Vorschein, als sie sah, daß wir vollständig hilflos und nur auf ihre Gnade angewiesen waren. Später wurde sie zu mir wieder freundlicher, vielleicht zu freundlich: sie sagte mir dann sogar plumpe Schmeicheleien, doch vorher hatte ich ebensoviel auszustehen wie Mama. Ewig machte sie uns Vorwürfe und sprach zu uns von nichts anderem, als von den Wohltaten, die sie uns erwies. Und allen fremden Leuten stellte sie uns als ihre armen Verwandten vor, als mittellose, schutzlose Witwe und Waise, die sie nur aus Mitleid und christlicher Nächstenliebe bei sich aufgenommen habe und nun ernähre. Bei Tisch verfolgte sie jeden Bissen, den wir zu nehmen wagten, mit den Augen, wenn wir aber nichts aßen, oder gar zu wenig, so
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