Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
nach Hause zurückkehren! Wir wollen jemand zu ihr rufen.“
„Ja, ja“, rief er auf einmal, indem er zusammenfuhr und sich von dem Pfosten erhob, wie wenn ihm plötzlich ein neuer Gedanke gekommen wäre, der alle seine Zweifel entschieden hätte. „Ja, Netotschka, so darf es nicht sein; wir müssen zur Mama hingehen; sie friert dort! Geh du zu ihr hin, Netotschka; geh du hin; dort ist es nicht dunkel; es brennt ein Licht; fürchte dich nicht; rufe jemanden zu ihr, und dann komm wieder zu mir her! Geh nur allein hin; ich werde hier auf dich warten ... Ich werde nicht fortgehen...“
Ich ging sogleich; aber kaum war ich auf das Trottoir gelangt, als ich auf einmal wie einen Stich im Herzen fühlte. Ich wandte mich um und sah, daß er bereits nach der andern Seite lief, von mir weg, und mich allein ließ, mich in diesem Augenblicke verließ! Ich schrie auf, so laut ich nur konnte, und lief ihm in entsetzlicher Angst nach, um ihn einzuholen. Ich keuchte; er lief immer schneller und schneller ... ich verlor ihn schon aus den Augen. Unterwegs fand ich seinen Hut, den er auf der Flucht verloren hatte; ich hob ihn auf und lief wieder weiter. Der Atem ging mir aus, und die Beine knickten unter mir ein. Ich hatte ein Gefühl, wie wenn etwas Schreckliches mit mir vorgehe: es schien mir immer, daß das ein Traum sei, und manchmal bildete sich bei mir dieselbe Empfindung wie im Traum, wenn mir träumte, ich liefe vor jemandem davon, aber die Beine brächen unter mir zusammen, der Verfolger erreiche mich und ich fiele bewußtlos nieder. Ein qualvolles Gefühl ergriff mich: ich bemitleidete ihn, das Herz blutete mir, wenn ich bedachte, wie er da ohne Mantel und ohne Hut von mir, seinem lieben Kinde, weglief ... Ich wollte ihn nur einholen, um ihn noch einmal herzlich zu küssen, ihm zu sagen, daß er sich nicht vor mir fürchten solle, ihm zu seiner Beruhigung zu versichern, daß ich ihm nicht mehr nachlaufen wolle, wenn er das nicht möge, sondern daß ich allein zur Mutter zurückkehren würde. Endlich sah ich, daß er in eine Straße einbog. Als ich dorthin gelaufen war und ebenfalls um die Ecke bog, konnte ich seine Gestalt noch weit vor mir unterscheiden; aber nun verließen mich die Kräfte: ich fing an zu weinen und zu schreien. Ich erinnere mich, daß ich im Laufen mit zwei Passanten zusammenstieß, die mitten auf dem Trottoir stehenblieben und uns beide erstaunt betrachteten.
„Papachen! Papachen!“ schrie ich zum letzten Male; aber plötzlich glitt ich auf dem Trottoir aus und fiel beim Tore eines Hauses zu Boden. Ich fühlte, wie das Blut mir über das ganze Gesicht floß. Einen Augenblick darauf verlor ich die Besinnung...
Ich erwachte in einem warmen, weichen Bette und erblickte neben mir wohlwollende, freundliche Gesichter, die mein Erwachen freudig begrüßten. Ich unterschied eine alte Frau mit einer Brille, einen hochgewachsenen Herrn, der mich mit tiefem Mitleide ansah, ferner eine schöne jüngere Dame und endlich einen grauhaarigen alten Mann, der meine Hand gefaßt hatte und auf seine Uhr sah. Ich war zu einem neuen Leben erwacht. Einer der beiden Fußgänger, an die ich auf meiner Flucht angerannt war, war Fürst Ch...i gewesen, und ich war am Tore seines Hauses hingefallen. Als man nach langen Nachforschungen in Erfahrung gebracht hatte, wer ich war, war der Fürst, der meinem Vater das Billet zu dem S...zschen Konzerte geschickt hatte, durch das seltsame Zusammentreffen tief ergriffen und beschloß, mich in sein Haus aufzunehmen und mich mit seinen Kindern zusammen zu erziehen. Es wurde auch nachgeforscht, was aus meinem Vater geworden sei, und man erfuhr, daß er von jemand schon außerhalb der Stadt in einem Anfall von Tobsucht festgehalten worden war. Er war dann in ein Krankenhaus gebracht worden, wo er zwei Tage darauf gestorben war.
Er starb, weil ein solcher Tod für ihn eine unvermeidliche Notwendigkeit, die natürliche Folge seines ganzen Lebens war. Er mußte so sterben, nachdem alles, was ihn im Leben aufrechterhalten hatte, mit einem Male zusammengebrochen und wie ein Schattenbild, wie ein körperloses, leeres Phantasiegebilde zerstoben war. Er starb, als seine letzte Hoffnung verschwunden war, als alles, womit er sich selbst getäuscht und worauf er sein ganzes Leben gegründet hatte, plötzlich vor seinem geistigen Blicke in seiner Nichtigkeit deutlich wurde und ihm zum klaren Bewußtsein kam. Die Wahrheit blendete ihn mit ihrem für ihn unerträglichen Glanze, und was Unwahrheit
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