Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
gewesen war, erschien nun auch ihm selbst als solche. In seiner letzten Stunde hatte er das wundervolle Genie gehört, das ihn zur Selbsterkenntnis geführt und ihm für immer das Urteil gesprochen hatte. Mit dem letzten Tone, der den Saiten der Geige des genialen S...z entflog, enthüllte sich ihm das ganze Geheimnis der Kunst, und dieses lebenslänglich junge, mächtige, echte Genie erdrückte ihn durch seine Echtheit. Alles, was nur in geheimnisvollen, undeutlichen Qualen ihn sein ganzes Leben lang bedrückt, alles, was ihm bisher nur geträumt und ihn nur in Visionen unklar und ungreifbar gepeinigt, was sich ihm nur zeitweilig kundgegeben hatte, wovor er aber erschrocken zurückgeflohen war, indem er hinter der Unwahrhaftigkeit seines ganzen Lebens Deckung suchte, alles, was er geahnt, aber bisher gefürchtet hatte: das alles strahlte jetzt plötzlich mit einem Schlage vor ihm auf und offenbarte sich seinen Augen, die sich bis dahin eigensinnig geweigert hatten, das Licht als Licht und die Dunkelheit als Dunkelheit anzuerkennen. Aber die Wahrheit war für seine Augen unerträglich, die zum erstenmal all das klar erkannten, was gewesen war, was war, und was seiner wartete; sie blendete seinen Verstand und verbrannte ihn zugleich. Sie traf ihn plötzlich unentrinnbar wie ein Blitz. Es vollzog sich auf einmal das, was er sein ganzes Leben lang mit Angst und Zittern erwartet hatte. Es hatte gleichsam sein ganzes Leben lang ein Beil über seinem Haupte gehangen; sein ganzes Leben lang hatte er in jedem Augenblick mit unaussprechlicher Qual erwartet, daß es auf ihn herunterfallen werde – und endlich war das Beil heruntergefallen! Der Schlag war tödlich. Er wollte sich dem Gerichte, das über ihn hereinbrach, entziehen; aber er wußte nicht, wohin er sich flüchten sollte; die letzte Hoffnung war verschwunden, die letzte Ausrede weggefallen. Die Frau, deren Leben angeblich so lange auf ihm gelastet hatte, die ihm nach seiner Behauptung das Leben verkümmert hatte, mit deren Tode er, wie er in seiner Verblendung geglaubt hatte, plötzlich mit einem Schlage ein neues Leben beginnen werde: die war gestorben. Endlich war er allein, nichts beengte ihn: er war endlich frei! Zum letztenmal wollte er in krampfhafter Verzweiflung über sich selbst zu Gericht sitzen, als unparteiischer, uneigennütziger Richter einen unerbittlichen, strengen Urteilsspruch über sich fallen; aber sein ermatteter Bogen konnte weiter nichts als schwächlich die letzte musikalische Phrase des Genies wiederholen ... In diesem Augenblicke packte der Wahnsinn, der schon zehn Jahre lang auf ihn gelauert hatte, ihn unentrinnbar.
KAPITEL IV
Ich genas nur langsam, aber auch als ich schon vollständig vom Bette aufstehen konnte, befand sich mein Geist immer noch in einer Art von Betäubung, und ich konnte lange Zeit nicht begreifen, was mit mir vorgegangen war. Es gab Augenblicke, wo es mir schien, daß ich träumte, und ich erinnere mich, daß ich wünschte, alles Geschehene möchte sich geradezu in einen Traum verwandeln! Wenn ich am Abend einschlief, so hoffte ich, ich würde auf irgendeine wundersame Weise wieder in unserer ärmlichen Stube aufwachen und den Vater und die Mutter sehen ... Aber endlich hellte sich meine Lage vor meinen Blicken auf, und allmählich verstand ich, daß ich ganz allein zurückgeblieben war und bei fremden Leuten lebte. Da empfand ich es zum erstenmal, daß ich eine Waise war.
Anfangs betrachtete ich wißbegierig all das Neue, in das ich so plötzlich hineinversetzt worden war. Zuerst erschien mir alles seltsam und wunderlich; alles setzte mich in Verwirrung: die neuen Gesichter und die neuen Gebräuche und die Zimmer des alten fürstlichen Hauses – als ob es heute wäre, sehe ich sie vor mir: große, hohe, prächtige Zimmer, aber von so ernstem, düsterem Charakter, daß ich, wie ich mich erinnere, wirklich Angst hatte durch einen gewissen langen, langen Saal hindurchzugehen, in dem ich, wie es mir vorkam, ganz verschwand. Meine Krankheit war noch nicht vorübergegangen und meine Stimmung trübe und schwermütig, ganz im Einklang mit dieser feierlich-düsteren Behausung. Außerdem wuchs ein mir selbst noch unklarer Kummer immer entschiedener in meinem kleinen Herzen heran. Voll Erstaunen blieb ich vor irgendeinem Gemälde, einem Spiegel, einem phantastisch gestalteten Kamin oder einer Statue stehen, die sich absichtlich in einer tiefen Nische zu verbergen schien, um mich von dort besser beobachten und
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