Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
...«
»Nun, sprechen Sie denn mit niemand?«
»Eigentlich mit niemand.«
»Wer sind Sie denn? Erklären Sie es mir! Doch warten Sie, ich glaube, ich kann es selbst erraten: Sie haben wohl eine Großmutter wie ich. Sie ist blind, läßt mich ihr ganzes Leben lang nicht von ihrer Seite, so daß ich beinahe zu sprechen verlernt habe. Und als ich vor zwei Jahren einen üblen Streich anstellte, und sie einsah, daß sie mich nicht anders festhalten konnte, rief sie mich einmal zu sich heran und befestigte mein Kleid mit einer Stecknadel an das ihrige. So sitzen wir nun seither tagelang nebeneinander; sie strickt, obwohl sie blind ist, einen Strumpf, und ich muß brav an ihrer Seite sitzen, nähen, oder ihr etwas vorlesen, – es ist so seltsam: seit zwei Jahren lebe ich an die Großmutter angesteckt ...«
»Mein Gott, wie traurig! Doch ich, nein, ich habe keine solche Großmutter.«
»Wenn Sie keine haben, wie können Sie dann immer zu Hause sitzen?«
»Hören Sie: Sie wollten doch wissen, wer ich bin?«
»Ja, gewiß?«
»Im eigentlichsten Sinne des Wortes?«
»Ja!«
»Also bitte: ich bin ein Typ.«
»Ein Typ? Was für ein Typ?« rief das Mädchen aus und lachte so, als ob sie ein ganzes Jahr keine Gelegenheit zum Lachen gehabt hätte. »In Ihrer Gesellschaft ist es wirklich lustig! Schauen Sie: hier ist eine Bank; wollen wir uns setzen. Hier kommt kein Mensch vorbei, niemand wird uns hören, also können Sie mir Ihre Geschichte erzählen! Sie werden mir nichts vormachen: natürlich haben Sie eine Geschichte, Sie verheimlichen sie nur. Sagen Sie mir vor allen Dingen: was ist ein Typ?«
»Ein Typ? Ein Typ ist ein Sonderling, ein lächerlicher Mensch,« sagte ich und begann, von ihrem kindlichen Lachen angesteckt, gleichfalls zu lachen. »Das ist so ein Charakter. Hören Sie einmal: wissen Sie, was ein Träumer ist?«
»Ein Träumer?! Wie sollte ich das nicht wissen? Auch ich bin eine Träumerin! Wenn ich so neben meiner Großmutter sitze, kommt mir doch alles Mögliche in den Sinn. Und so fange ich an zu träumen, und wenn ich schon einmal im Zuge bin, so kann es auch vorkommen, daß ich in meinen Gedanken den Kaiser von China heirate ... Manchmal ist es sehr schön zu träumen! Übrigens nein, – ich weiß wirklich nicht ... Besonders wenn man auch an andere Dinge denken muß ...« fügte das Mädchen ziemlich ernst hinzu.
»Vortrefflich! Wenn Sie schon einmal so weit waren, daß Sie den Kaiser von China heirateten, so werden Sie auch mich verstehen. Also hören Sie zu ... Erlauben Sie übrigens: ich weiß ja noch gar nicht, wie Sie heißen!«
»Endlich fällt's Ihnen ein, danach zu fragen! Früh genug!«
»Ach mein Gott! Früher dachte ich gar nicht daran, ich fühlte mich auch so schon glücklich ...«
»Ich heiße Nastenka.«
»Nastenka! Und weiter?«
»Nichts weiter! Ist es Ihnen zu wenig? Sie sind wirklich unersättlich!«
»Ob es mir zu wenig ist? Im Gegenteil: es ist viel, sehr viel! Sie sind wirklich ein gutes Mädchen, Nastenka, wenn Sie sich gleich zu Beginn mit dem Kosenamen Nastenka vorstellen.«
»Nun sehen Sie es! Also weiter!«
»Hören Sie, Nastenka, was für eine komische Geschichte ich Ihnen erzählen werde.«
Ich setzte mich neben sie, nahm eine pedantisch-ernste Pose an und begann wie aus einem Buche:
»Es gibt, wenn Sie es noch nicht wissen, Nastenka, es gibt hier in Petersburg recht seltsame Winkel. In solche Winkel schaut jene Sonne, die sonst für alle Einwohner Petersburgs scheint, wohl niemals hinein. An ihrer Statt guckt zuweilen eine andere, neue Sonne hinein, eine eigens für solche Winkel geschaffene Sonne, die auf alles ein ganz anderes, eigenes Licht wirft. In solchen Winkeln, liebe Nastenka, lebt man ein ganz besonderes Leben, das von dem Leben, das um uns brandet, gänzlich verschieden ist; ein Leben, das es vielleicht nur noch irgendwo, in einem fernen Märchenlande gibt, aber keineswegs hier bei uns, in unsrer ernsten, bitterernsten Zeit. Dieses Leben ist ein Gemenge von etwas rein Phantastischem und brennend Idealem und – leider, Nastenka! – trüb Prosaischem und Gewöhnlichem, um nicht zu sagen – grenzenlos Banalem.«
»Pfui! Du lieber Himmel! Diese Vorrede! Was werde ich denn noch zu hören bekommen?«
»Sie werden hören, Nastenka, (ich glaube, ich werde niemals müde, Sie Nastenka zu nennen), Sie werden hören, daß in solchen Winkeln sonderbare Menschen – ich nenne sie Träumer – leben. Ein Träumer, wenn ich genauer definieren soll, ist gar
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