Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
Wort: »Er ist hier, ich weiß es! Wir hatten es noch damals, am Abend vor seiner Abreise abgemacht. Als wir uns alles gesagt hatten, was ich Ihnen eben wiedererzählte, kamen wir her, an diese Stelle. Es war zehn Uhr abends; wir saßen hier auf dieser Bank; ich weinte nicht mehr, es war mir so süß, seinen Worten zuzuhören ... Er sagte, daß er gleich nach seiner Rückkehr zu uns kommen wollte, und wir dann alles der Großmutter erzählen würden, wenn ich mich nur bis dahin von ihm nicht lossagte. Nun ist er zurückgekehrt, ich weiß es ganz bestimmt, und ließ sich bei uns noch immer nicht sehen!«
Und sie brach von neuem in Tränen aus.
»Mein Gott! Kann ich Ihnen denn gar nicht helfen?« rief ich ganz verzweifelt und sprang von der Bank auf. »Sagen Sie, Nastenka: geht es nicht, daß ich ihn aufsuche und mit ihm spreche?«
»Geht denn das?« fragte sie, plötzlich aufhorchend.
»Nein, natürlich geht das nicht!« antwortete ich nach rascher Überlegung. »Aber etwas anderes: schreiben Sie ihm doch einen Brief!«
»Nein, das ist unmöglich, ganz unmöglich!« erwiderte sie sehr entschieden. Sie ließ schon wieder den Kopf sinken und sah mich nicht an.
»Warum unmöglich? Warum ginge das nicht?« fuhr ich fort, krampfhaft an meiner Idee festhaltend. »Wissen Sie, Nastenka, was für einen Brief ich meine? Es gibt Briefe und Briefe ... Ach, Nastenka, das wäre wirklich das Beste! Vertrauen Sie sich mir nur an! Ich will Ihnen doch keinen schlechten Rat geben! Das läßt sich wirklich machen! Sie haben ja den ersten Schritt getan, und jetzt auf einmal ...«
»Es geht nicht! Es geht nicht! Es würde so aussehen, als ob ich mich ihm aufdrängte ...«
»Meine gute Nastenka!« unterbrach ich sie, ohne mein Lächeln zu verbergen. »Es würde gar nicht so aussehen! Denn schließlich sind Sie im Recht, wenn er Ihnen das Versprechen gegeben hat. Ich sehe ja auch aus allem, was Sie mir erzählten, daß er ein durchaus anständiger Mensch ist und sich Ihnen gegenüber durchaus ehrenhaft benommen hat.« Ich war von der Logik meiner eigenen Gründe und Beweise schon ganz hingerissen. »Was hat er getan? Er hat sich durch ein Versprechen gebunden. Er hat doch gesagt, daß er keine andere als Sie nehmen werde, wenn er überhaupt einmal heiratete. Ihnen hat er aber volle Freiheit gelassen, so daß Sie sich von ihm jeden Augenblick lossagen konnten ... In diesem Falle dürfen Sie wohl den ersten Schritt tun; Sie sind im Recht und haben den Vorteil, daß Sie ihm, zum Beispiel, sein Wort, mit dem er sich selbst gebunden, zurückgeben können ...«
»Sagen Sie, wie würden Sie schreiben?«
»Was schreiben?«
»Nun, den Brief.«
»Ich würde so schreiben: ›Sehr geehrter Herr‹ ...«
»Muß man mit dieser Anrede anfangen?«
»Unbedingt! Übrigens ... Ich glaube ...«
»Nun gut! Weiter!«
»›Sehr geehrter Herr! Entschuldigen Sie, wenn ich ...‹ Nein, Sie haben sich gar nicht zu entschuldigen! Die Tatsache selbst entschuldigt Sie. Schreiben Sie einfach so: ›Ich schreibe Ihnen. Verzeihen Sie meine Ungeduld; doch ich lebte ein ganzes Jahr in Hoffnung und war glücklich. Bin ich schuld, daß ich jetzt keinen Tag des Zweifels ertragen kann? Nun sind Sie zurückgekehrt, haben aber vielleicht Ihre Absichten geändert. In diesem Falle soll mein Brief Ihnen sagen, daß ich nicht klage und Ihnen nichts vorwerfe. Ich kann Sie doch nicht dafür verantwortlich machen, daß ich keine Gewalt mehr über Ihr Herz habe; so ist schon einmal mein Schicksal!
Sie sind ein edler Mensch. Sie werden über meine ungeduldigen Zeilen weder lächeln noch sich ärgern. Vergessen Sie nicht, daß es nur ein armes Mädchen ist, das Ihnen schreibt, daß es ganz einsam ist und niemanden hat, den es um Rat und Beistand bitten könnte, und daß es niemals fähig war, ihr eigenes Herz zu beherrschen. Doch verzeihen Sie, wenn ich in mir auch nur für einen Augenblick Zweifel aufkommen ließ. Sie sind nicht einmal in Gedanken fähig, die zu beleidigen, die Sie so liebte und noch jetzt liebt.‹«
»Ja, ja! So habe ich es mir auch gedacht!« rief Nastenka, und Freude leuchtete aus ihren Augen. »Ja, Sie haben alle meine Zweifel gelöst, Gott selbst hat Sie mir gesandt! Ich danke Ihnen, ich danke!«
»Wofür? Dafür, daß mich Gott gesandt hat?« fragte ich, ihr freudestrahlendes Gesichtchen mit Entzücken betrachtend.
»Ja, meinetwegen dafür!«
»Ach Nastenka! Wir sind ja wirklich einem Menschen manchmal nur dafür dankbar, daß er in unserer Nähe
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