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Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Titel: Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Dostojewski
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stand. Denken Sie nicht, ich wolle nun nachweisen, daß man bei uns die Zivilisation und die Gesetze der normalen, wirklichen Entwicklung barbarisch verwechsele, nachweisen, daß die Zivilisation im Westen selbst schon verurteilt ist und für sie dort nur noch einzig der Besitzer einsteht (obschon dort alle Besitzer sind oder Besitzer werden wollen), um sein Geld zu retten. Denken Sie nicht, es sei nun meine Absicht, zu beweisen, daß die Menschenseele nicht eine tabula rasa ist, nicht ein Wachsding, aus dem man den Allgemeinmenschen formen kann; daß ganz zuerst eine Natur gegeben sein muß, dann die Wissenschaft, dann ein selbständiges Leben, ein bodenständiges, kein beschränktes, und der Glaube an seine eigenen nationalen Kräfte. Denken Sie nicht, ich wolle tun, als wüßte ich nicht, daß unsere Fortschrittler (wenn auch längst nicht alle von ihnen) durchaus nicht für die Watte einstehen, sie vielmehr ebenso brandmarken wie jenes leichte Kleidungsstück. Nein, ich will jetzt nur Eines sagen: in jenem Artikel wurde dieser Volksbrauch nicht einfach getadelt und verurteilt, man nannte ihn nicht einfach eine Barbarei, sondern man wollte damit ganz augenscheinlich die allgemeine nationale, elementare Barbarei unseres einfachen Volkes an den Pranger stellen, als Gegensatz zu der europäischen Zivilisation unserer höheren, vornehmen Gesellschaft. Der Artikel tat so wichtig, der Artikel schien überhaupt nicht wissen zu wollen, daß es bei diesen Sittenrichtern selber vielleicht tausendmal schlimmer und gemeiner zugeht, daß wir nur die einen Vorurteile und Schändlichkeiten gegen andere, vielleicht noch größere Vorurteile und Schändlichkeiten eingetauscht haben. Der Artikel schien aber unsere eigenen Vorurteile und Schändlichkeiten überhaupt nicht zu bemerken. Weshalb also, weshalb so wichtig tun und sich hoch über dem Volke stehend dünken, die Hände in die Seiten gestemmt, breitspurig und spuckend ... Wie lächerlich, wie unsagbar lächerlich ist doch dieser Glaube an die eigene Unfehlbarkeit und an das Recht zu solcher Entrüstung! Gleichviel was es ist: Glaube oder einfach Überhebung dem Volk gegenüber, oder schließlich gedankenloser, sklavischer Kniefall speziell vor den europäischen Formen der Zivilisation; letzteres wäre ja noch lächerlicher.
    Doch was! Solcher Tatsachen lassen sich tagtäglich wohl ein Tausend finden. Verzeihen Sie die Wiedergabe des Vorfalls.
    Übrigens, ich versündige mich. Ich tue ja unrecht! Das kommt daher, daß ich gar zu schnell von den Großvätern auf die Enkel hinübergesprungen bin. Es gab doch auch Zwischenstücke. Erinnern Sie sich Tschatzkis. Der war schon kein naiv-durchtriebener Großvater, auch kein selbstzufriedener Nachfahre, der stolz dasteht und alles schon abgeurteilt hat. Tschatzki ist ein ganz besonderer Typ unseres russischen Europa, er ist der Typ eines lieben, begeisterten Menschen, der wirklich leidet, der bereits Rußland und den Heimatboden anruft und – und dann doch wieder nach Europa reist, um dort »einen Winkel für ein gekränktes Empfinden« zu suchen ... Kurz, ein Typ, der jetzt vollkommen unnütz ist und der einmal ungeheuer nützlich war. Er ist ein Phraseur, ein Schwätzer, aber ein herzlicher Phraseur, und einer, der sich wegen seiner Nutzlosigkeit grämt und schämt. Sein Typ hat jetzt in der neuen Generation schon eine Wandlung erfahren. Wir glauben an die jungen Kräfte; wir glauben, daß er bald wieder erscheinen wird, dann aber nicht in hysterischer Erregung wie ehemals auf dem Ball bei Famussoff, sondern als Sieger, stolz, mächtig, demütig und liebend. Er wird bis dahin schon erkannt haben, daß der Winkel für ein gekränktes Empfinden nicht in Europa, sondern vielleicht dicht vor seiner Nase liegt, und wird hier etwas zu tun finden und das auch tun. Aber wissen Sie: ich bin ja doch überzeugt, daß es schon jetzt bei uns nicht nur Feldwebel der Zivilisation und europäische Narren gibt; ich bin überzeugt, ja ich verbürge mich dafür, daß der junge Mensch schon geboren ist ... Doch davon später. Zunächst will ich noch ein paar Worte über Tschatzki sagen.
    Ich verstehe eines nicht: Tschatzki war doch ein sehr kluger Mensch. Wie konnte es nun geschehen, daß ein kluger Mensch hier nichts zu tun fand? Sie fanden ja alle nichts zu tun, fanden in der ganzen Zeitspanne von zwei-drei Generationen nichts. Das ist Tatsache und gegen eine Tatsache zu reden, lohnt sich nicht, denke ich; doch aus Interesse nach den Gründen

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