Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
sämtlichen Eigenschaften zerlegen und diese dann wieder zusammenfügen, erhalten wir ihn nicht, es fehlt noch etwas: er nämlich fehlt. Die Summe seiner sämtlichen Eigenschaften ergibt ihn nicht, er ist mehr. Damit aus ihnen er werde, muß, indem sie verknüpft werden, noch irgend etwas dazu kommen, was den menschlichen Verstand übersteigt, ja auf ihn, wenn er es ahnt und sich nicht davor in Ehrfurcht rettet, aufreizend lächerlich wirkt. Das erbittert ja Freunde gegeneinander so, denn der Freund ist alles, was wir an ihm verstehen, aber er nimmt sich heraus, dann noch etwas dazu zu sein, etwas was wir immer, immer wieder fühlen müssen, aber niemals, niemals erkennen können, weil es keinen Zugang für den menschlichen Verstand hat. So kann man sagen, daß jeder unerkannt durchs Leben geht, unerkannt ins Grab sinkt; und auch er selbst erfährt sein eigenes Geheimnis nie. Dieses Geheimnis, diese innerste Verknüpfung und Verknotung, dieses Absurde des Einzelmenschen stellt Dostojewski mit einer Kraft dar, wie nur noch Shakespeare und Balzac. Jede Gestalt dieser Dichter ist ein Unikum, auch ihrem eigenen Schöpfer gegenüber, wodurch sie sich z. B. von den Gestalten Goethes unterscheiden: auch diese sind mehr als ihre sämtlichen Eigenschaften, aber was noch dazu kommt, ist Goethe, sie haben alle Goethes Augen, wie alle Lippen, die Leonardo malt, das Lächeln Leonardos haben. Aber Shakespeares, Balzacs und Dostojewskis Gestalten wissen von ihrem Schöpfer nichts mehr. Und nun geht aber Dostojewski her und schlägt ihren Knoten durch. Er löst sie auf, läßt ihnen aber dabei das Unauflösliche jeder Erscheinung. Er nimmt ihnen einen Augenblick ihr Antlitz ab, aber gleich darauf bindet er es ihnen wieder vor.
Stendhals Julien oder Balzacs Rubempre oder Ibsens Hjalmar haben kein geringeres Leben als irgendeine Gestalt Dostojewskis, aber der Unterschied ist: sie bleiben in ihrer Gestalt eingeschlossen und können nicht mehr heraus; aus dem ewigen Flusse geschöpft, durch die bildende Kraft des Künstlers geballt, stehen sie dann in ihrer Form still und wir hören nur allenfalls, wie das Element, gefangen, gebändigt, leise zuweilen noch glucksend an die starre Wand schlägt. Dieses innere Klopfen der Gestalten an ihrer Form ängstigt uns oft bei Hauptmann so, gar am Emanuel Quint: jetzt und jetzt fürchten wir, daß die Form davon zerbrechen wird, und wissen nicht, warum wir es aber doch zugleich auch fast wünschen. Wagner freilich führt seine Gestalten durch die Macht der Musik aus der Enge der Gestalt hervor und erlöst sie von sich selbst, ihr Wesen überwogt ihre Form, die Gestalt zergeht in ihre Essenz, Isolde wird zur Liebe, Kundry zur Buße, nichts als Liebe bleibt von Isolden, nichts als Buße von Kundry zurück, des Meisters Eckhart leuchtendes Wort wird Ereignis: »Auf denn, edle Seele, so geh denn aus dir, so weit, daß du gar nicht wieder zurückkommst, und geh ein in Gott, so weit, daß du gar nicht wieder herauskommst!« Aber bei Dostojewski kommt sie wieder heraus, sie kehrt zu sich zurück: das ist es, wodurch Dostojewski die Menschheit auf einen neuen Weg, wodurch er uns ins Freie bringt, das ist es, wodurch er uns in der größten Krise des europäischen Gewissens die einzige Rettung zeigt.
Erzene Gestalten löst Dostojewski wieder in die ganze Menschheit auf und zieht dann aber im nächsten Augenblick die ganze Menschheit wieder in dieselbe Gestalt ein: fortwährend nimmt bei ihm unter unseren Augen das Chaos Gestalt an, es wird hart, gleich aber erweicht sich die Gestalt und zerfließt, aber schon gerinnt der Fluß wieder, und in solchem unablässigen Wechsel scheint bald die Menschheit in einer Gestalt, bald wieder die Gestalt in der Menschheit zu verschwinden, die Menschheit atmet Gestalten ein und aus, jede Gestalt Dostojewskis ist ein ununterbrochener Zug von Geburten, Toben und Wiedergeburten. Daraus erklärt es sich auch, warum er so stark erotisch wirkt, denn eben dieses Entweichen und Wiederkehren der Gestalt, die von ihrem austretenden Inhalt überschwemmt wird, dann aber aus den absinkenden Fluten wieder emportaucht, erleben wir sonst nur in den Augenblicken der Liebeslust, wenn der Liebende, wenn die Geliebte nichts mehr als Verlangen sind, alles Eigene verlischt und uns aus den vertrautesten Zügen das Urgesicht der Menschheit fremd und ungestalt anstarrt, bis dann allmählich erst, von der seligen Selbstvergessenheit erwachend, aus dem Urweibe wieder die verschwundene Gestalt der
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