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Werke

Werke

Titel: Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theodor Storm
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Pfefferminzpastille in den Mund. – Gott hab sie selig, meine alte Freundin!« sagte er mit plötzlich weicher Stimme. »Wer weiß! Vielleicht kann noch ein junges Leben von diesen letzten Anstrengungen einer Greisin profitieren; denn« – und er klopfte mit dem Finger gegen seine Stirn – »hier hab ich alles wohl verwahrt, wie es einst der unsterbliche Meister von der jungen Primadonna gesungen haben wollte.«
    – – »Sie haben mir«, begann ich, da mein Freund jetzt schwieg, »noch nie von Ihrer Jugendzeit gesprochen. Wurde in Ihrem Elternhause auch Musik getrieben?«
    »Freilich«, erwiderte er; »weshalb wäre ich denn sonst ein Musiker geworden!«
    »Nur deshalb, lieber Freund? Das glaube ich Ihnen nicht.«
    »Nun, nun; es mag auch wohl mein wirklicher Beruf gewesen sein; aber eine Kopfschwäche hat mich immer sehr behindert; oh, Sie denken nicht, wie sehr! – Als ich in einer Dorfkirche zum ersten Mal die Orgel hörte, brach ich in Schluchzen aus, daß man es gar nicht stillen konnte. Das war nicht die Gewalt der Musik; denn eine Türschelle, die unversehens über mir läutete, hatte ganz dieselbe Wirkung; – es war mein armer schwacher Kopf, den ich schon als Knabe zwischen meinen Schultern trug.« – Er blieb einen Augenblick stehen, und ich hörte ihn seufzen, als wenn er eine Trauer niederkämpfe.
    »Mein Vater«, fuhr er nach einer Weile fort, »wußte von solchen Dingen nichts; er war ein Mann auf den Punkt, ein angesehener, vielbeschäftigter Advokat in dieser Stadt. Meine liebe Mutter verlor ich schon in meinem zwölften Jahre; seitdem lebte ich mit ihm allein; denn meine Geschwister waren älter als ich und alle schon von Hause fort. Außer seinen Akten und einer auserwählten geschichtlichen Büchersammlung, die ich trotz aller Ermahnung nicht zu benutzen verstand, hatte er nur eine Liebhaberei, und das war die Musik ja, ich kann wohl sagen, daß ich meinen hauptsächlichsten Unterricht von ihm erhalten habe. – Es wäre vielleicht besser von einem andern geschehen. – – Sie werden mich nicht mißverstehen! Mir fehlt nicht das dankbare Gedächtnis für seine liebevollen Mühen; aber er wurde, wenn meine Kopfschwäche mich befiel, leicht ungeduldig, heftig, was mich doch nur ganz verwirrte. Ich habe derzeit viel dadurch gelitten; jetzt weiß ich’s wohl, er konnte nicht dafür; bei seinem raschen Sinn konnte er nicht verstehen, was in mir vorging; er sah darin nichts als eine angeborene Trägheit, die nur aufgerüttelt werden müsse. Aber an einem Tage – ich stand schon vor der Konfirmation – , da kam ihm dennoch das Verständnis. Oh, mein guter Vater, ich werde das nie vergessen!« Er streckte die Arme aus und ließ sie wieder sinken; dann fuhr er fort: »Wir saßen im Wohnzimmer am Klavier und spielten eine vierhändige Sonate von Clementi. Ich hatte am vorhergehenden Abend noch spät an einem schwierigen Kapitel der Harmonielehre gesessen und hatte davon, wie meine selige Mutter zu sagen pflegte, einen ›dünnen‹ Kopf in den andern Tag hinübergenommen. Mitten im Rondo der Sonate verwirrten sich meine Gedanken, ich griff wiederholt falsch, und mein Vater rief heftig: ›Wie ist das möglich? Du hast das ja schon zwanzigmal gespielt.‹ – Er schlug die Blätter zurück, und wir begannen den Satz von neuem; aber es half nicht, ich kam über die verhängnisvolle Stelle nicht hinüber. Da sprang er auf und warf seinen Stuhl zurück. – – Ich weiß nicht, wie es in andern Familien zugeht bei all seiner Heftigkeit, ich hatte nie von meinem Vater einen Schlag erhalten. Es mag ihm wohl sonst noch etwas im Gemüt gelegen haben; denn jetzt, da ich schon fast kein Knabe mehr war, wurde er so von seinem Zorne hingerissen.
    Die Noten waren vom Pulpet herab auf den Fußboden gefallen; ich hob sie schweigend auf; meine Wange brannte, und in der Brust quoll es mir auf, als solle das Blut über meine Lippen stürzen; aber ich setzte mich wieder zurecht und legte meine zitternden Hände auf die Tasten. Auch mein Vater saß wieder neben mir, und ohne daß ein Wort oder auch nur ein Blick zwischen uns gewechselt wäre, spielten wir die Sonate weiter. Ich weiß auch noch sehr wohl – und ich habe mich später oft selbst gefragt, ob wohl der große Schmerz für Augenblicke meine Kraft so wunderbar belebt habe – , aber es wurde mir plötzlich leicht, die Noten wurden wie von selbst zu Tönen, als wären gar keine weißen und schwarzen Tasten mehr dazwischen, die meine unbeholfene Hand zu

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