Werke
noch eine Tapetenhandlung angelegt; das heißt, was man wirklich so Tapeten nennen konnte; denn vor ihm, wie er händereibend zu versichern pflegte, hatten die Leute sich ihre Stuben nur mit aller Art von buntem Löschpapier verkleistert.
Herr Zippel war ein blasses Männchen mit vollem dunklem Haupthaar, das er, um seinem arbeitenden Gehirne Luft zu schaffen, alle Augenblicke mit seinen fünf gespreizten Fingern in die Höhe zog. Wohl zehnmal in einer Stunde, gleiche einem Marionettenmännchen, erschien und verschwand er in dem Rahmen seiner allzeit offenen Haustür; und den an dem gegenüberliegenden Straßenfenster strickenden Damen begann etwas zu fehlen, sobald das gewohnte Spiel einmal versagte.
Das einzige Kind des Hauses war eine Tochter, ein braunes, grätiges Ding mit zwei langen schwarzen Zöpfen und damals kaum dreizehn Jahre alt. In der Taufe hatte sie den Namen »Rosalie« erhalten, und wenn Herr Zippel, sei es pathetisch oder auch nur zornig war, dann wurde sie auch so von ihm gerufen, für gewöhnlich aber nannte man sie, aus Gott weiß welchem Grunde, »Kätti«. Herr Zippel schickte seine Tochter in die beste Mädchenschule, aber sie war eine berufen schlechte Schülerin. Nur in der Geographiestunde pflegte sie mitunter aufzumerken; der Lehrer war einst in vielen Ländern herumgekommen, und seine Vorträge gewannen zuweilen den Ton der Sehnsucht in die weite, weite Welt; dann starrten ihn die schwarzen Augensterne an, und die mageren Arme des Kindes reckten sich über den Schultisch immer weiter ihm entgegen. Auch in den Klavierstunden, die ihr der Vater geben ließ, blieb sie nicht dahinter; ja, sie zeigte bisweilen eine Auffassung, die über ihre Jahre hinauszugehen schien; und es konnte dann wohl geschehen, daß sie mitten im Stücke aufsprang und davonlief, als ob was Fremdes über sie hereingebrochen sei.
Aber der schwere Klavierkasten, der so fest gegen die Wand geschoben stand, war nicht das Instrument, das ihre eigenste Natur verlangte. Ein solches, das sie bis jetzt nur in den Händen durchziehender Künstlerinnen gesehen hatte, sollte ihr erst jetzt zuteil werden.
Auf dem Boden des langgestreckten Hauses befand sich nach dem Hofe zu eine Giebelstube, in welche unlängst bei Beginn des Sommersemesters ein schon älterer Primaner eingezogen war. Aus irgendeinem Winkel hatte Kätti von rot bemützten jungen Herren nebst vielen Büchern auch eine Gitarre hineingetragen und mit verlangenden Augen hinter der sich schließenden Stubentür verschwinden sehen. Aber eines Nachmittags, da sie ihren Hausgenossen sicher in seiner Gelehrtenschule wußte und während sie selber freilich in ihrer Mädchenschule sitzen sollte, huschte sie leise über den Boden und blickte durch die geöffnete Tür in die leere Stube. Als sie die Gitarre gegenüber an der Wand hängen sah, schlüpfte sie hinein und zog hinter sich die Tür ins Schloß.
Ebenso ging es am folgenden Nachmittage und noch ein paar Tage weiter; endlich kam Klage aus der Mädchenschule: Kätti hatte die letzte Woche jeden Nachmittag gefehlt. Es war kein Zweifel, sie mußte sich bis dahin zierlich durchgelogen haben; nun aber brach das Wetter über sie herein. Herr Zippel erinnerte sich plötzlich ihres Taufnamens; mit gesträubtem Haupthaar lief er im Hause umher; den Brief der Lehrerin hielt er in der einen Hand und schlug ihn mit der andern. »Rosalie!« rief er, »Rosalie! Wo hat das Unglückskind sich wieder hinverflogen!«
Endlich, irgendwoher, erschien sie vor ihm; halb lauernd, halb ängstlich sah sie ihren Vater an. »Weißt du, daß du mein einziges Kind bist«, sprach Herr Zippel nachdrücklich, »und daß deine Mutter in der Erde ruht?«
Kätti ließ das Köpfchen hängen, daß ihr die langen Flechten über die Brust herabfielen.
»Kannst du lesen?« fragte Herr Zippel wieder.
Sie antwortete nicht.
»Da!« sagte er und gab ihr den Brief der Lehrerin. »Versuch es; aber es ist geschriebene Schrift! Wie kann man geschriebene Schrift lesen, wenn man nicht zur Schule geht!«
»Ich kann wohl lesen!« sagte sie trotzig und erschrak doch, als sie einen Blick hineingetan hatte. Aber sie kannte ihren Vater, sie mußte ihn ruhig austoben lassen.
Er hatte den Brief ihr aus der Hand gerissen und vollzog an diesem aufs neue seine symbolische Züchtigung; dabei sagte er seiner Tochter, sie würde seinen sauer erworbenen Ruf zugrunde richten, sein schwarzes Haar würde vor Weihnachten noch weißer als der Schnee sein und sie selber würde
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