Wernievergibt
Erinnerungskonserve zu verstehen, in der wir pflichtschuldig unsere Erlebnisse ablegen. Sie hält das Tagebuch für ein psychologisches Werkzeug, mit dem wir uns, geschützt von den Angriffen der Welt, unseren Gefühlen und Intentionen widmen können, ohne dass jemand kommt und uns verurteilt. Dabei hat die Amerikanerin mich angeschaut, über den Rand ihres Weinglases, und ihre grauen Augen sahen plötzlich aus wie Krater, in denen tief unten Nebel wabert. Konnte sie ahnen, wie stark mein Drang ist, mich und andere zu beurteilen? Ich will es nicht tun, doch zugleich muss ich es tun.
Fast wollte ich mich an jenem Abend im ›Old House‹ gegen Kristins Vorschlag wehren, es mit dem Schreiben eines Tagebuchs zu versuchen. Ich guckte den Tanzvorführungen zu. Als die swanetischen Tänzer mit ihren Schwertern fochten und über die Bühne wirbelten, sprühten die Funken, und Kristin jubelte vor Freude über die tollen Bilder, die sie mit ihrer Digitalkamera schoss.
Wie ich denn anfangen sollte, fragte ich Kristin, als wir uns zum Abschluss des Abends jede eine Tasse türkischen Kaffee bestellten. Ich spürte diese schleichende Traurigkeit, die ich als Kind empfunden hatte, wenn ein Theaterstück zur Hälfte vorbei, ein Buch zur Hälfte gelesen war. Ich wollte diesen Abend nicht hergeben.
Indem ich mir eine Kladde kaufte und anfinge, schlug Kristin vor.
Aber: Womit?
Kristin schwenkte sacht die Tasse mit ihrem Kaffee. Sie hatte sie fast leergetrunken, bloß ein wenig Wasser musste bleiben, um den Satz flüssig zu halten. Mit einer geschickten Bewegung kippte sie den sämigen Kaffeesatz auf ihre Untertasse und stellte die Tasse daneben, auf eine Papierserviette. Genauso hatte meine Großmutter das immer gemacht, und eine Welle von Trauer durchfuhr mich. So plötzlich, dass ich auf meinem Stuhl zu schwanken begann und froh war, als vorne auf der Bühne ein neues Lied angestimmt wurde. Meine Ohren litten zwar an dem übersteuerten Krach, aber der Gesang und das Kreischen der Mikros passte in dieses Restaurant, zu den kasachischen Geschäftsleuten am Nebentisch, die vermutlich gerade den Abschluss eines lukrativen Gasgeschäftes feierten. Es passte zu meiner Stimmung. Weil ich das Gefühl habe, an einem Wendepunkt meines Lebens angekommen zu sein. Weil ich spüre, ich muss etwas ändern, etwas Neues ausprobieren.
Ich sollte über alles schreiben, was mir in den Sinn kommt, schlug Kristin vor, während sie sich interessiert die Muster in ihrer Tasse besah. Konnte eine Amerikanerin die Zukunft lesen? Großmutter konnte das. Wie schlimm der Schmerz des Verlustes war! Nach Jahren! Ich war ein Kind gewesen, als ich sie verlassen hatte. Von ihrem Verschwinden hatte ich in Deutschland erfahren, und damals gab es keine Möglichkeit, nach Georgien zu reisen, um … um was? Was hätte irgendjemand tun können? Sie hatte die Berge geliebt, und meine Tanten und Cousinen waren der Auffassung, Großmutter sei in die Berge gefahren, vielleicht um Kräuter zu sammeln. Sie brauchte für ihre Tränke, die sie einmal im Jahr braute, viele Kräuter, die nur im Kaukasus wachsen. Dort sei sie gestürzt und gestorben. In der Einsamkeit eines Tales oder einer Felsspalte. Niemand würde sie dort je finden, in diesen unwirtlichen Regionen in Tuschetien oder Swanetien. Das war die Erklärung, die die Familie sich irgendwann zurechtschnitzte. Deine Großmutter war ja immer so selbstständig, winselten die Tanten, ließ sich nie helfen, und alt wurde sie auch, da konnte sie schon in den Bergen verloren gehen.
Beginne mit einem Bild, unterbrach Kristin meine Gedanken und nickte versonnen beim Anblick ihrer Zukunft in einer Kaffeetasse. Verbinde den Augenblick, in dem du zu schreiben beginnst, direkt mit einem Bild. Wo bist du? Was empfindest du? Was fürchtest du? Wer oder was ist dir wichtig? Was verändert dein Leben? Welche Bedeutung hat dieser Moment für dich?
Nun sitze ich da, im Marriott an der Rustaweli-Avenue, und schaue auf die billige Kladde, die ich einer armseligen Alten an der Straße abgekauft habe, zusammen mit einem Beutel Zitronen. Die habe ich nur gekauft, damit sie ein Geschäft macht. Zitronen aus Adscharien, hat sie gesagt und gelacht, vom Schwarzen Meer, weißt du, wo das liegt, Gogo 2 ? Sie hat eine Unterhaltung gesucht und ich spürte in diesem Augenblick, dass unsere Leben nicht weit auseinanderlagen. Zwischen Erfolg und Misserfolg, zwischen einem Leben, von dem die Zeitungen berichten, und einem, das du auf einem
Weitere Kostenlose Bücher