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Wernievergibt

Wernievergibt

Titel: Wernievergibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friederike Schmöe
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fast, dass ich ihr zum Mutterersatz geworden bin. Vor jedem Konzert, jeder Premiere ruft sie mich an und bittet mich, ihr die Daumen zu drücken. Sie ist sehr anhänglich.«
    »Sie kommt ja ab und zu nach Georgien. Treffen Sie sich dann?«
    »Sofern es möglich ist.« Tamara überprüfte mit einem schnellen Blick, ob wir ausreichend Tee und Kuchen hatten. »Ich hatte mich so gefreut, sie zu sehen, es ist über ein Jahr her, dass sie das letzte Mal zu Besuch zu mir kam. Aber nach dem Konzert in der Philharmonie war sie so verschlossen. Sie rief mich in der Nacht an und sagte: »Tamara, hast du Zeit, ich möchte unbedingt zu dir kommen.«
    »Wie wollte sie nach Sighnaghi fahren?«, erkundigte ich mich.
    »Normalerweise nimmt sie das Sammeltaxi. Marschrutka nennen wir diese Minibusse, sind Sie schon mal Marschrutka gefahren?«
    »Das müssen wir noch machen!«, bestimmte Sopo mit einem heimtückischen Grinsen auf den schönen Lippen.
    »Dieses Mal«, fuhr Tamara fort, »hatte Clara es eilig und sie sagte mir am Telefon, sie würde sich einen Fahrer nehmen.«
    Wir schwiegen eine Weile. Nur das leise Kratzen der Tortengabeln auf den Tellern und das Gluckern des Samowars waren zu hören.
    Den Rest der Geschichte kannten wir. Clara war nicht gekommen.
    »Haben Sie nicht die Polizei angerufen?«, fragte ich schließlich. »Sie müssen sich doch Sorgen gemacht haben!«
    »Ich habe die Polizei angerufen!« Tamara rang die Hände. »Man sagte, es gäbe keine Anhaltspunkte, und schließlich sei Clara erwachsen und könne gehen, wohin sie wolle.« Sie goss uns Tee nach. »Kurz darauf habe ich ihre Verwandten in Balnuri ausfindig gemacht. Da sind nicht mehr viele: zwei Tanten, Cousinen und deren Familien. Und die wollen nichts mit ihr zu tun haben. Sie denken, Clara lebe im Westen in Saus und Braus bei all dem internationalen Ruhm, und sie sind gelb vor Neid. Welche Qualen, welche Arbeit hinter all dem Erfolg stecken, können sie sich überhaupt nicht vorstellen. Sie sehen nur Glitzer, Glamour und Geld.«
    »Könnte Clara einfach früher abgereist sein?«, fragte Juliane. »Zurück nach Deutschland, zum Beispiel. Das Konzert im Konservatorium ist ausgefallen. Ihre Agentur weiß von nichts.«
    Tamara tupfte sich mit einem karierten Stofftaschentuch die Tränen vom Gesicht. »Ich habe alle Bekannten aus dem Konservatorium, die in der Tbilisser Musikszene Bescheid wissen, angerufen. Clara ist wie vom Erdboden verschluckt. Ich weiß gar nicht, was ich tun soll, außer herumzutelefonieren und mich in der Nacht schlaflos in den Kissen zu wälzen.«
    »Könnten Sie uns die Namen und Adressen von Claras Verwandten in Balnuri geben?«, bat ich.
    Schweigend kramte Tamara ein zerfleddertes Notizbuch aus einer alten Kommode. Sopo übernahm es, die Anschriften und Telefonnummern abzuschreiben.
    »Hat Clara Ihnen von einer Reisejournalistin erzählt? Mira Berglund, aus Deutschland?«
    »Mira Berglund? Eine Mira Berglund hat mich am 30. abends angerufen. An dem Tag, an dem Clara kommen wollte.«
    Aufgeregt reckte ich den Kopf. Mir tat der Nacken weh. Wahrscheinlich von dem Durchzug im Auto.
    Tamara nickte konzentriert. »So hieß die Dame. Sie sagte, Clara habe ihr meine Nummer gegeben. Ich konnte ihr nur sagen, dass Clara noch nicht hier war. Mein Gott, ich mache mir wirklich Sorgen.« Feine Schweißperlen benetzten Tamaras Gesicht, als habe jemand sie mit einer Handbrause besprüht.
    »Hat sie gesagt, weshalb sie anruft?«
    »Sie hat Clara wohl um ein Interview gebeten.« Tamara dachte nach. »Allerdings wirkte sie plötzlich auch sehr aufgeregt; als … ich kann das nicht ausdrücken.« Es folgte ein Wortschwall auf Georgisch, den Sopo einsog wie einen Joint.
    »Sie wurde auf einmal nervös«, ließ sich unsere Dolmetscherin schließlich zu einer Übersetzung herab. »Als hätte sie eine Eingebung oder Vision.«
    »Vision?« Juliane und ich sahen einander an. »Was heißt das denn!«
    »Ich kann es nicht besser erklären«, entschuldigte sich Tamara. Ihre Lider begannen zu flattern. Die oberflächliche Ausgeglichenheit dieser Frau, die ich für Abgeklärtheit gehalten hatte, war lediglich ein Korsett, das sie zusammenhielt, damit sie funktionierte und sich nicht von ihren Sorgen verrückt machen ließ.
    »Von wo hat sie denn angerufen?«, machte ich auf stabilerem Grund weiter.
    »Aus Tbilissi.«
    »Und von wo da? Hat sie von einem Handy aus angerufen oder von einem Festnetztelefon?«
    »Ach, das zeigt mein Telefon nicht an.« Tamara wies

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