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Wernievergibt

Wernievergibt

Titel: Wernievergibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friederike Schmöe
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geschossen haben!«
    »Nein. Ich meine, es hat all die Jahre zuvor Probleme gegeben. Provokationen, ethnischen Hass auf beiden Seiten.« Sie stülpte die Sonnenbrille über ihr Gesicht.
    »Was denn für Provokationen?«
    »Lass sie in Frieden«, raunte Juliane. »Sie will nicht darüber sprechen. Merkst du das nicht?«
    Ich dachte an meine Agentin und ihren Hunger nach politischen Dimensionen in Reiseartikeln.
    »Mit uns war ein EU-Diplomat im Flugzeug«, sagte Juliane. »Ich habe seine Mailadresse. Frag den.«
    Ich glotzte, als sei soeben Prometheus vor mir von seinem Felsen gestiegen.
    »EU-Diplomat?«
    »Du warst auf dem Flug ja völlig neben der Mütze. Ein netter Kerl, seit Jahren im Auftrag der Europäischen Union als Sondergesandter für Georgien unterwegs.«
    »Das heißt …«
    »Ja, das bedeutet, dass die EU sich dafür interessiert, was hier in diesem Land passiert, und das ist verdammt noch mal wirklich notwendig. Stell dir vor, sie brechen uns Rheinland-Pfalz aus der Landkarte. Oder das Ruhrgebiet.«
    Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mich das in die Depression stürzen würde. Politik interessierte mich nicht, aber diese Aussage würde Juliane fuchtig machen, und nach Zank stand mir nicht der Sinn. »Dann hätten wir einfach ein paar Meckerliesen weniger«, murmelte ich. Bei dem Fahrtwind konnte ich mich selbst kaum hören.
    »Gleich sind wir in Gori«, meldete sich Sopo zurück. Der angespannte Ausdruck auf ihrem Gesicht war verblasst. »Die Russen haben die Stadt im August 2008 eingenommen und einige Wochen besetzt. Sie haben gehaust wie … ich erspare Ihnen Details. Eine Freundin von mir wohnt in Gori. Sie ist mit ihrer ganzen Familie im Auto nach Tbilissi geflüchtet. Bis die Russen weg waren, haben sie bei mir und meiner Mutter gewohnt. Sie wussten nicht, was sie bei ihrer Rückkehr vorfinden würden.«
    »Und?«, fragte ich gespannt.
    Sopo zuckte nur die Achseln. »Die Russen haben Waschbecken, Armaturen und sogar die Kloschüssel mitgehen lassen. Sehen Sie? Hier sind die Straßenarbeiten gerade fertig geworden. Die russische Armee hat die Autobahn zerstört und die Brücken gesprengt.«
    »Na, klasse!« Ich hörte im Geiste meine Oma Laverde. Sie stammt aus Ostpreußen, war weltanschaulich nicht ganz in der neuen Zeitrechnung angekommen, und ihr ganzes Leben lang hatte sie diese Warnung auf den Lippen gehabt: Wenn die Russen kommen …
    Ich war mit ihren Ängsten aufgewachsen, ohne mir unter ›die Russen kommen‹ etwas vorstellen zu können. Oma Laverde war da praktischer veranlagt: Sie besaß einen alten Armeerucksack, in dem sie ihre Papiere und Dokumente aufbewahrte, ein paar Fotos von ihrem Gut in Ostpreußen, ihren Kindern, meinem Opa. Der Rucksack wartete griffbereit in ihrem Schlafzimmer, nur für den Fall. Nach ihrem Tod hatte ich den Rucksack durchstöbert und unter anderem ein funkelnagelneues Taschenwörterbuch ›Russisch – Deutsch‹ entdeckt.
    Wir ließen Gori rechts liegen. Die Gegend wurde zunehmend gebirgiger, die Temperaturen kühler. Juliane verkroch sich in ihrer Regenjacke, weil Wano keine Anstalten machte, die Fenster zu schließen. Sein halblanges Haar flatterte im Fahrtwind und er rauchte ununterbrochen. Sopo verschanzte sich hinter ihrer Sonnenbrille, und ich war mit meinen Gedanken allein. Aber nicht lange. Mein Handy klingelte.
    »Ich bin Thea, die Sekretärin von Isolde Weiß.«
    »Guten Tag.«
    »Wissen Sie, wir haben eben neue Werbematerialien aus der Druckerei geholt, in denen unsere pädagogische Arbeit präsentiert wird. Ich möchte Ihnen einen Satz Unterlagen vorbeibringen. Wo kann ich Sie treffen?«
    »Ich bin für zwei Tage nicht in Tbilissi«, sagte ich.
    »Schade.«
    »Sie können die Sachen im Hotel für mich hinterlegen.«
    »Ich hätte Ihnen gerne alles erklärt, und morgen reisen Isolde und ich wieder ab. Die Kinder sind schon zurück in Balnuri.«
    »Ich wollte ohnehin nach Balnuri fahren«, sagte ich cool. »Ich rufe Sie an, wenn ich weiß, wann das sein wird. Dann treffen wir uns dort.«
    Thea bedankte sich überschwänglich.
     
    Die Straße wurde immer schmaler, die Sonne tauchte hinter Wolken ab. Ich zerrte einen Pullover aus dem Gepäck und war zum ersten Mal zufrieden mit meinen Klamotten. Wano erbarmte sich und schloss das Fenster zur Hälfte. Die Berge um uns wurden steiler, die Talfalten enger. Nebel klebte zwischen den Hängen. Rechts und links der Straße erstreckten sich Dörfer, deren Anfang und Ende nicht absehbar schienen.

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