Wernievergibt
Tante blockte ab.«
»Und die verschwundene Großmutter?«, hakte Juliane nach.
»Als ich sie erwähnte, wurde die Dame noch unzugänglicher.« Sopo nahm Spiegel und Lippenstift aus ihrer Handtasche und restaurierte ihr Make-up.
Während ich an dem dunkelroten Saft nippte, sortierte ich meine Gedanken. Isolde, Thea, Tamara: Alle unterstrichen, wie großartig und menschenfreundlich Clara sich verhielt. Nur ihre eigenen Verwandten schienen anders zu denken. Das war ja nichts Neues. Verletzungen, Geschwüre, Schikanen. »Familie, die Keimzelle des Terrors«, wurde ich einen meiner Lieblingssätze los.
Juliane sah durch mich hindurch. »Wie ist das, Sopo: Claras Vater ist deutschstämmig, richtig?«
»Ja. Die Müllers haben eine direkte Linie zu den ersten württembergischen Einwanderern.«
»Und ihre Mutter?«
»Auch deren Vater war Deutscher. Zur Hälfte. Die Mutter der Mutter war Georgierin. Also Claras Großmutter. Deren Mutter wiederum war Tschetschenin.«
»Woher wissen Sie das so genau?«, fragte ich argwöhnisch.
»Recherche?« Sopo lächelte spöttisch. »Nein, im Ernst, ich habe vor, meine Magisterarbeit über die Deutschen in Georgien zu schreiben. Ich war schon einige Male in Balnuri.«
»Sagen Sie«, Juliane legte die Hand auf Sopos Arm, und ich spürte ein Brennen in der Kehle, »die verschwundene Großmutter: Welche ist das?«
»Die Mutter der Mutter. Medea Kwantaliani. Elfriede Müller starb vor Claras Geburt.«
»Wenn ich richtig rechne, ist die Großmutter zu Sowjetzeiten in der Versenkung verschwunden. Korrekt?«
Auf Sopos schöner Stirn bildete sich eine steile Falte. Sie setzte eine Sonnenbrille auf, die einen Eber unsichtbar gemacht hätte, und nickte.
»Ging das so einfach?«
»Georgien ist ein gebirgiges Land. Viele Täler sind unzugänglich. Da verirrt sich niemand hin. Im Winter sind ganze Gebiete für Monate von der Welt abgeschnitten. Kann sein, dass Medea auch gleich nach Russland rübergegangen ist. Nach Tschetschenien, wo ihre Mutter herkam.«
»Kein allzu heimeliger Ort«, warf ich ein.
»Heute nicht mehr. Als wir die UdSSR hatten, sah das anders aus.«
Zu Sowjetzeiten musste Sopo ein Kleinkind gewesen sein. Ich spürte, wie ich aggressiv wurde. Wogegen begehrte ich auf? Gegen ihre Jugend? Ihre geradezu übernatürliche Schönheit? Ihre coole Selbstsicherheit? Und warum klammerte ich mich eigentlich an die Lebensgeschichte einer Operndiva, von deren Existenz ich bis vor ein paar Tagen nichts gewusst hatte?
»Wano hat zwei Tage Zeit, bevor er eine Gruppe Touristen ans Schwarze Meer bringt«, unterbrach Sopo unsere Grübeleien. »Wenn Sie Lust haben, fahren wir morgen nach Bordschomi, die alte Kurstadt, in der auch die Zaren in der Sommerfrische waren. Wir übernachten dort, fahren dann übermorgen zum Höhlenkloster Wardsia, das ist sehr bekannt und uralt, das müssen Sie sehen, und kehren am Abend zurück nach Tbilissi.«
Ich dachte an den Reiseplan, den wir erst gestern mühevoll ausgeklügelt hatten, und freute mich an der Zwanglosigkeit, mit der der Plan obsolet wurde. Mit Clara kamen wir nicht weiter, mit Mira sowieso nicht, und mit einem klassischen Touri-Trip könnte ich wenigstens Lynns dauerndem Drängen etwas entgegensetzen.
»Wir fahren haarscharf an der Demarkationslinie nach Südossetien vorbei«, bemerkte Sopo in entspanntem Ton. Wir hatten Tbilissi gerade mal eine knappe Stunde hinter uns gelassen, waren auf einer ordentlich ausgebauten vierspurigen Autobahn direkt nach Westen unterwegs. Kurz hinter der Hauptstadt hatten wir kilometerlange Reihen winziger, völlig identischer Häuser gesehen, in denen die Flüchtlinge aus dem Augustkrieg von 2008 Unterschlupf gefunden hatten.
»Demarkationslinie?«, fragte ich alarmiert.
»Südossetien ist verbotenes Gebiet. De facto haben die Russen es annektiert, selbst wenn kein vernünftiger Staat dieser Welt die neuen Zustände anerkennt.«
»Und die Grenze verläuft hier?« Ungläubig blickte ich nach rechts. Das Wetter war klar, wir sahen die Kaukasuskette in der Ferne. Kühe standen auf dem Standstreifen herum und genossen den kühlen Fahrtwind, den die Autos entfachten.
»Ganz knapp neben der Autobahn«, nickte Sopo. »In Südossetien leben angeblich gerade noch 20.000 Menschen. Alle anderen sind geflohen.«
Juliane murmelte etwas, das ich nicht verstand.
»Wer hat eigentlich mit dem Krieg angefangen?«, fragte ich.
Sopo seufzte. »Das kann man so nicht beantworten.«
»Warum nicht? Einer muss zuerst
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