Wernievergibt
ihrem Blick lag etwas Zweifelndes.
Ich ging wieder zur Tür und dachte: Jetzt spielt Frau Laverde die Heldin der Nacht. Obwohl ich mich fühlte wie ein trockenes Lorbeerblatt. Bereit, zu Staub zu zerfallen. »Kommst du mit?«
Sie kam mir barfuß nach, in einem Pyjama mit viel zu langen Armen und Beinen. Darüber konnte ich nachdenken. Aber nicht über den Kerl in meinem Zimmer. Juliane hielt ein Buch in der Hand. Hardcover. Wir standen vor der Tür. Sie hob das Buch. Ich legte die Hand auf die Klinke. Vielleicht hatte ich mich getäuscht. Da war nichts. Nichts und niemand in meinem Zimmer. Halluzinationen im Halbschlaf kamen schon mal vor.
Wir verständigten uns mit einem Augenzwinkern. Dann stieß ich die Tür auf.
Ein Typ stand über mein Notebook gebeugt. Ich sah ein Kabel, das eine externe Festplatte mit meinem Rechner verband. Er fuhr herum. Ein Mann, glatt rasiert, mit zwei Schnitten in der rechten Wange. Mehr fiel mir nicht auf. Haarfarbe? Keine Ahnung. Ich achtete nicht einmal darauf, ob er Haare hatte.
Er sah uns an, ebenso erschrocken wie wir. Dann riss er das Kabel aus dem Rechner, richtete sich vor uns auf, nicht besonders groß, durchschnittlich eben, drückte uns mit beiden Händen zur Seite. Eine nach rechts, die andere nach links. Juliane ließ das Hardcoverbuch auf seine Schulter krachen. Er trug eine Lederjacke. Es klatschte, als der Band auf dem Leder aufkam. Ich roch Schweiß. Er rannte den Gang entlang, die Treppe hinunter. Unten hörte ich eine Tür klappen. Juliane lief drei Schritte, dann drehte sie sich um, ratlos. »Ich gehe runter!«, verkündete sie.
Im Hotel blieb es mäuschenstill. Unser Überraschungsangriff war vollkommen leise erfolgt. Mein Pass, meine Scheckkarten, mein Geld waren noch da. Ich klickte auf dem Bildschirm herum.
»Hat er Daten gelöscht?«, fragte Juliane, als sie nach wenigen Minuten wiederkam.
»Nein, es fehlt nichts.« Wir flüsterten wie Teenager, die das erste Mal in der Fremde übernachteten. Ich war froh, vor meiner Abreise die meisten Projekte auf eine zweite Festplatte gezogen und vom Notebook gelöscht zu haben. Nur meine Adressdatei und meine Sammlungen zur Reportage für Lynn waren auf dem Rechner. Und ein paar private Dinge. »Er hat wohl eher was kopiert als gelöscht.«
»Kannst du feststellen, was?«
»Wenn wir ihn zu früh gestört haben, hat er nicht viel mitgehen lassen können. Oder er war schon fast fertig.« Ein Computercrack konnte das vielleicht feststellen. Ich sah mich im Zimmer um. Seit einigen Monaten speicherte ich meine Daten nicht mehr auf Sticks, sondern online. Zu Hause achtete ich darauf, nach Neros Anweisung jede Woche ein Back-up zu machen. Nero, verdammt! Wie oft hatte er mir gepredigt, meinen Rechner durch ein Passwort zu schützen?
Juliane ließ sich aufs Bett sinken. »Und jetzt? An der Rezeption ist niemand. Nicht mal ein Nachtportier.«
»Sollen wir Sopo …«, begann ich, gab mir jedoch gleich selbst die Antwort. »Nein.«
»Nimm an, einer vom Hotel hat den Typen gesehen. Der wäre nicht so schnell wieder in die Koje gehüpft«, sagte Juliane. »Es sei denn …«
»Ich weiß, worauf du hinauswillst. Es sei denn, das hier ist ein abgekartetes Spiel.«
»Ein paar Scheine sind über den Tresen gewandert, und der Nachtportier hat Brechdurchfall oder Ischiasschmerzen und liegt blind und taub auf dem Canapé.«
»Was ist mit der Tür da draußen? Steht da ›privat‹ drauf?« Ich wies auf den Gang.
»Ist abgeschlossen. Kann ich mal?«
Ich schob ihr das Notebook hin.
»Sieh an, das Hotel hat WLAN. Ungesichert. Wer hätte das gedacht.«
»Was hast du vor? Online Schuhe kaufen?«, spielte ich den Witzbold.
»Mira Berglund. Die ganze Zeit kam mir der Name bekannt vor. Ich kann dir nicht sagen, weshalb. Jetzt schließen sich ein paar Scharniere in meinem Hirn. Man wird wirklich alt.«
Ich war bislang einfach nicht draufgekommen, nach Mira Berglund zu googlen. Gebannt sah ich über Julianes Schulter. Nach einer guten Viertelstunde konzentrierten Schweigens, in der wir Webseiten durchforsteten, sagte sie: »Mira Berglund. Reporterin, Bloggerin, Aktivistin, Juristin. Hat eine Doktorarbeit über den Einfluss Russlands auf die transkaukasischen Staaten geschrieben. Artikel über den Tschetschenienkrieg, den Georgienkrieg und diverse ethnische Konflikte im Kaukasus in renommierten Magazinen. Konflikte gibt es ja etliche.«
»Lynn! Na, der geige ich die Meinung.«
»Mach die Pferde nicht scheu. Reportagereise nach
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