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Wernievergibt

Wernievergibt

Titel: Wernievergibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friederike Schmöe
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mehr lang, dann haut mir das Universum ein Jährchen mehr auf die Rippen. Ich habe also einen gewissen Vorsprung an Lebenserfahrung.«
    »Nee, ist klar.« Ich biss in den Chatschapuri. »Hm! Köstlich!«
    »Und ich war schon mal hier.«
    »Du – was?«
    Juliane nickte mit gesenktem Blick.
    »Wann? In einem früheren Leben?«, wollte ich wissen.
    »1988.«
    »Du fantasierst!«
    »Nein, im Ernst. Ich habe damals mit meiner Schwester eine Reise nach Georgien, Armenien und Aserbaidschan gemacht. Durch den ganzen Transkaukasus. Dolly ist am Anfang ausgerastet, ich am Ende.«
    »Was bedeutet ausgerastet?«, fragte ich neugierig und machte mich über den geräucherten Käse her.
    »Ich war wie durcheinandergewirbelt. Alles war anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Von der Gastfreundschaft der Menschen war ich am meisten gefesselt. Und von dieser heißblütigen Art, das Leben verändern zu wollen.«
    »Wer wollte denn was verändern?«
    »Entschuldige, ich vergesse ja immer, dass du in der Gummizelle lebst. Mäuselchen, 1988. Tickt da etwas bei dir? Am 9.4.1989 haben die Georgier in Demonstrationen gegen die Sowjetbesatzung aufbegehrt. Die gefürchteten OMON-Truppen rückten an und setzten chemische Kampfstoffe gegen die Demonstranten ein. Etliche starben, andere überlebten mit den schlimmsten körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen. Denkst du, die Proteste sind aus dem Nichts gekommen?«
    »Haben sie dich ins Land gelassen, weil sie deine Schwäche für den Kommunismus erkannten?«, fragte ich, da mich der Gedanke an politische Unwägbarkeiten in meinem elenden Zustand ängstigte. Ich brauchte sicheres Terrain.
    »Ich bin Sozialistin, nicht Kommunistin«, sagte Juliane geduldig. »Kommunismus ist ein Verbrechen. An dieser Erkenntnis führt kein Weg mehr vorbei.« Sie begann unvermittelt zu weinen. Ich hörte auf zu kauen, so entsetzt war ich. Juliane fluchte, schimpfte, tobte oder zotete – aber sie weinte nicht, zumindest nicht vor anderen Menschen. Auch nicht, wenn diese Kea Laverde hießen.
    »Juliane«, flüsterte ich und berührte sanft ihren Arm. Doch ich brauchte sie nicht fragen, was los war: Auf eine andere Weise als mich warf das fremde Land sie aus den Socken. Da war die Erinnerung an Zeiten, in denen sie Ideale gehabt hatte. Schließlich die Erkenntnis, einer Illusion aufgesessen zu sein. Da war die Trauer um ihre Schwester. Die Bestürzung der letzten Jahre, in denen die Demenz Dollys Gehirn aufgefressen hatte. Ihr Tod bedeutete Erlösung, aber Juliane schien auch eine diffuse Schuld zu fühlen. Ich kannte ihre Angewohnheit, sich in unausgegorenen Emotionen zu verlieren und daraufhin auszuflippen.
    Eine Weile saßen wir einander gegenüber auf meinem Bett. Plötzlich sprang Juliane auf und rannte hinaus. Am Ende des Korridors hörte ich sie die Tür zu ihrem Zimmer aufschließen.
    Ich aß alles auf, was sie mir mitgebracht hatte, schnappte mir die Tüte mit den Arzneimitteln und ging ihr nach.
    Sie öffnete mir, ließ mich ohne Kommentar ein. Wir kuschelten uns zu zweit in ihr Bett. Der Regen klatschte gegen das Fenster. Ich schlief schnell ein.

19
    Ich hätte den Einbruch verschlafen, wenn meine verschnupfte Nase und eine taube Hand mich nicht geweckt hätten. Missmutig massierte ich mit der linken meinen Nacken, während meine kribbelnde rechte nach dem Nasenspray tastete. Draußen trommelte der Regen aufs Fensterbrett. Ein tropischer Schauer, der sich anhörte, als stürze eine Wasserwand senkrecht zur Erde.
    Ich gähnte, schniefte und versuchte, neben Juliane einen bequemen Platz zu finden, als es knackte. Laut und deutlich. So wie das Schloss an meiner Zimmertür. Ich fuhr hoch, tappte in Socken zur Tür und lauschte. Sacht drehte ich den Schlüssel und wankte auf den Korridor. Die Tür zu meinem Zimmer schwankte im Wind leicht hin und her und wurde behutsam von innen geschlossen.
    »Scheiße«, flüsterte ich. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Außer Julianes und meiner Tür gab es nur noch eine auf diesem Gang, auf der in georgischen und kyrillischen Buchstaben etwas stand, das ich mit ›privat‹ übersetzte. Ich atmete flach, tastete mich ins Zimmer zurück und rüttelte Juliane.
    Sie schlief so still wie eine Katze. Zusammengerollt auf der Seite liegend. Ich konnte sie nicht mal atmen hören.
    »Juliane, wach auf. In meinem Zimmer ist jemand!«
    Sie schoss hoch und sah mich verwirrt an. Das kurze Haar stand in alle Richtungen. »Was sagst du?«
    »In meinem Zimmer ist einer.«
    In

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