Wernievergibt
und darin steckt die Härte, die Anstrengung.
Gut, sehr gut, Weltklasse bist du nur, wenn du arbeitest, an dir feilst und schmirgelst. Nie mit dem zufrieden bist, was du hast. Denn das ist der Stillstand, und auf den wartet die Konkurrenz.
All die Jahre, nachdem Mutter gestorben war, wollte ich, dass sie stolz auf mich sein kann. Sie war zwar tot, aber ihr Arm war lang genug, um mich aufzurichten oder zu verurteilen. Eine Frau, die Entscheidungen treffen musste. Sie hatte einen starken Willen. Sie wusste stets, was richtig und falsch ist. Ich weiß das nie.
Ich habe versucht, Kristin in ihrem Hotel zu erreichen. Sie wohnt in Wake. Den Stadtteil mochte ich schon immer. Wären wir nicht ausgewandert, wären wir in Georgien geblieben, hätte ich gern dort gelebt. Wäre in eine Wohnung hoch oben am Berg gezogen, um in der Nacht die beleuchtete Stadt unter mir anzuschauen. Und in den Zeiten, als wir nie Strom hatten, hätte ich einfach die Stadt schlafen sehen. Wo die Leute Liebe machen und Kinder, weil es in Kälte und Dunkelheit und bei den ganzen Schießereien auf der Straße nichts anderes zu tun gab.
Ich sage ›wir‹. ›Wir‹ hatten keinen Strom. Als wäre ich nie weg gewesen. Oft wird in Zeitungsartikeln über mich geschrieben, dass ich dem kleinen Land im Kaukasus immer noch verbunden sei. Was denn sonst! Kann ich meine Heimat ausradieren?
Nach Mutters Tod fühlte ich das erste Mal den Abgrund. Mein letzter Halt war dahin. Großmutter nicht zu erreichen, abgetaucht, vielleicht ebenfalls nicht mehr am Leben. Endgültigkeit. Der Tod ist eben der Tod. Wie erlösend! Der Tod wäre eine Option, um aus allem rauszukommen. Aus der Selbstkasteiung, aus dem Käfig, aus dem täglichen Üben. Ich wohne im Marriott, weil man hier meine Übungsstunden, in denen meine Stimme nicht so begeisternd klingt, hinnimmt. Weil man hier – seltsam, in einem anonymen Hotel – stolz auf mich ist. Weil die Anwesenheit der Diva das Hotel aufwertet, etwas für die Corporate Identity tut.
Die Wärme, die ich spürte, wenn ich auf dem Schoß meiner Großmutter saß! Wie weich ihr Körper war. Sie hatte einen birnenförmigen Busen und trug ihre Wolljacken auf der nackten Haut. Die Wolljacken waren mal weich, mal kratzig; mein Kopf hatte dort genau den richtigen Platz. Ich legte die Arme um ihren Hals und blieb sitzen, und sie ließ mich. Sie plauderte weiter mit ihren Freundinnen, sie lasen in der Kaffeetasse und tauschten Neuigkeiten aus, ohne jemals auf mich Rücksicht zu nehmen. Diese Stunden auf dem Schoß meiner Großmutter lehrten mich alles über Sex. Die Frauen hatten ein erfülltes Sexualleben, weil sie nicht lange fackelten. Weil sie Selbstvertrauen hatten und den Männern klarmachten, was sie wollten.
Zu Hause in München habe ich ein Kissen, mit Wollstoff bezogen, und manchmal drücke ich es an mich. Es atmet nicht, wie meine Großmutter atmete, es atmet gar nicht, es duftet nicht nach Seife und Stall und Schweiß und frisch geröstetem Kaffee. Manchmal gehe ich durch die Straßen und murmele ihren Namen, als könnte ich sie herbeirufen von dem Ort, an dem sie sich verschanzt hat.
›Ich wünschte, ich könnte …‹ Kristin hat mir vorgeschlagen, eine Liste anzulegen mit zehn Punkten, die alle mit ›ich wünschte, ich könnte‹ beginnen. Dann soll ich einfach schnell aufschreiben, was mir dazu einfällt. Ohne nachzudenken und mich gleich wieder selbst zu zensieren.
Ich wünschte, ich könnte ohne diese ständige Kritik leben.
Jetzt loben mich die Zeitungen in den Himmel. Sie preisen meine junge Stimme, meine Einfühlsamkeit und etwas, das sie Esprit nennen und an mir entdeckt haben, ohne dass ich weiß, was das sein soll. Sie nennen mich ›Die Feurige‹, ›Die Wandelbare‹, und Frau Asmus schickt mir pflichtschuldig alle Kritiken zu.
Manchmal, wenn ich auf der Bühne stehe, sehe ich den Kritiker im Publikum sitzen. Nur in meiner Vorstellung natürlich, denn unter den gnadenlosen Scheinwerfern kann ich nichts erkennen. Dann tritt mir der Schweiß auf die Stirn, ich denke, ich schmelze, und der Kritiker schreibt: Die Cleveland gibt alles. Bei jedem Auftritt. Ihr Leben ist Einsatz, ist Verkörperung der Musik.
Ich gebe alles, weil mir nichts anderes übrigbleibt. Und dennoch spüre ich unter meinen Sohlen ein Schwanken wie von einem Dampfer, der langsam immer morscher wird und schließlich nur noch aus ein paar Stücken feuchtem Holz bestehen wird. Heute preisen mich die Kritiker, sie bauen mir eine
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