Wernievergibt
eben dran vorbeigekommen sein!« Giorgi rieb sich das stachelkurze, schwarze Haar. Er schien mein Alter zu haben. Meine Zielgruppe, schoss es mir durch den Kopf.
»Ich habe ein paar Freunde alarmiert und wir sind runter in die Schlucht geklettert. Auf halbem Weg haben wir gesehen, dass da ein Mensch liegt. Von dem war fast nichts mehr übrig. Keine Hände oder Füße«, er scheuchte seine kleine Tochter mit einem vielsagenden Raunzer aus der Stube. »Nur ein schwarzer Schädel und ein bisschen was vom Rumpf. Wir konnten nicht mal feststellen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Da haben wir die Mönche gerufen.«
»Wo ist der Leichnam jetzt?«
»Oben am Berg.« Er holte mit dem Arm aus. »Unser Friedhof liegt höher als das Dorf. Der Boden ist noch gefroren. Nichts zu machen. Wir müssen warten, bis wir den Toten bestatten können.«
»Und das Auto?« Ich schleckte an meinem Honiglöffel. »Was für ein Wagen war das?«
»Ein Minijeep wahrscheinlich. Die Karre liegt noch da unten. Schaut sie euch an, wenn ihr wollt. Ich führe euch in den Canyon.«
Eine Stunde später kletterten wir in Begleitung von fünf weiteren Männern aus dem Dorf in die Schlucht. Mir zitterten die Knie, während ich hinter Sopo auf einem ausgetretenen Pfad die fast senkrechte Wand hinunterschlitterte, mich rechts und links an Felsvorsprüngen und glitschigen Grasbüscheln festhaltend. Der Himmel bezog sich. Es begann zu nieseln.
»Verdammter Schnaps«, murrte Juliane hinter mir.
»Verdammtes Wetter«, schoss ich zurück. Dass Juliane mit ihren 78 wie eine Gämse in die Schlucht kletterte, als hätte sie gerade einen Masterkurs im Freeclimbing absolviert, stellte meine Sportlichkeit ziemlich infrage.
Nach knapp 40 Minuten standen wir ratlos um das Autowrack herum. Wie Giorgi gesagt hatte: Viel zu identifizieren gab es nicht, außer Reste verschmorten Plastiks, ein bisschen schwarzes Blech und Asche. Um eine Fahrgestellnummer zu finden, brauchte man wahrscheinlich das forensische Labor aus einer amerikanischen Krimiserie.
»Sie haben den Wagen am Samstag vor Ostern gesehen«, wandte ich mich an Giorgi. »Was glauben Sie: Wie lange vorher ist der Unfall passiert?«
»Vielleicht einen Tag früher. Am Ostersonntag hat es zu schneien begonnen, und seit Gründonnerstag hatten wir trockenes Wetter. Vorher hat es geregnet. Aber das Wrack war nicht nass, als wir zum ersten Mal hier herunterkamen.«
Folglich zwischen Gründonnerstag und Karsamstag, dachte ich. Ich fotografierte das zerstörte Auto und unser Grüppchen, das so verwirrt wie verfroren darum herumstand. In die bedrückte Stille hinein schnitt das Klingeln von Sopos Handy. Diesmal dauerte das Gespräch nur wenige Minuten.
»Mira Berglund ist nicht ausgereist«, sagte sie auf Deutsch. Die Männer guckten neugierig.
»Denk nach!«, hörte ich Juliane ganz nah an meinem Ohr. »Clara ist am 29.3. nach Sighnaghi aufgebrochen und nicht angekommen.«
»Schon. Doch das war der Montag vor Ostern, also einige Tage zu früh, um hier in die Schlucht gestürzt zu sein«, sagte ich nachdenklich. »Der Hinweis auf das Wetter ist einsichtig. Außerdem liegt Sighnaghi von Tbilissi aus gesehen genau in der anderen Richtung. Östlich. Und wir sind hier fast an der türkischen Grenze.«
Die Männer setzten sich wieder in Bewegung, und auch Sopo sah aus, als wolle sie schnellstmöglich aus dem Canyon verschwinden.
»Keine Einwände«, bestätigte Juliane.
Wir schlossen uns der Karawane an.
»Hat denn niemand hier in der Gegend jemanden vermisst?«, fragte ich. »Oder hat vielleicht einer die Polizei alarmiert?«
Sopo fragte die Männer und bekam einen mehrminütigen Redeschwall zur Antwort.
»Natürlich haben sie den Fall bei der Polizei gemeldet. Allerdings wurde niemand aus Meßcheti vermisst, deshalb konnte man nicht viel tun.«
»Haben die nicht etwas mehr gesagt als diese zwei Sätze?«, wandte ich ein.
»Ja, in Georgien erzählt man immer mehr, man sagt bloß nicht unbedingt mehr«, erwiderte Sopo.
»Der gnädige Tonfall geht mir allmählich auf die Ziffer«, zischte Juliane mir ins Ohr.
21
Das kreative, kunsterfüllte Leben erweist sich als Fessel. Es ist eine Eigen-Knechtschaft. Kristin würde lachen, wenn sie sähe, wie ich neue Wörter erfinde. Das hält sie nämlich für kreativ. Für sie ist Kreativität ein Spiel, ein Experiment, ein beständiges Ausprobieren und Herumblödeln. Dagegen ist Kreativität für mich harte Arbeit. ›Schaffenskraft‹ lautet das deutsche Wort,
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