Wernievergibt
Trittleiter für die Karriere, das Publikum liebt mich, wenn ich gut bin. Es wird mich eines Tages fallen lassen, denn niemand kann immer gut sein, beeindruckend, schön, geistreich, voller Ausstrahlung.
Es gibt Abende, da würde ich am liebsten nur auf dem Sofa liegen und träumen. Statt mit der Tram in die Oper zu fahren, in die Maske zu gehen und unter Giselas Händen zu einer anderen zu werden. Statt das Raunen des Publikums zu hören, kurz bevor der Dirigent rausgeht und dem Konzertmeister die Hand schüttelt.
Wie sehr hasse ich mich selbst, wenn ich nicht alles gegeben habe. Weil meine Haut unter der Schminke juckt. Weil meine Füße geschwollen sind. Weil mein Hals brennt von der Anstrengung.
Ich wünschte, ich könnte meine Großmutter finden.
Ich wünschte, ich könnte ein Kind bekommen.
Ich wünschte, ich könnte in Georgien leben.
Ich wünschte, ich könnte überhaupt in einem südlichen Land leben.
Ich wünschte, ich könnte entkommen.
22
Unverschämt selbstsicher fläzte die Nacht zwischen den Bergen. Juliane hockte mit Wano im leeren Frühstücksraum. Er hatte auf der Rückfahrt bei einem Bekannten mehrere Ballons Wein gekauft. Die beiden kippten sich ein Glas nach dem anderen hinter die Binde und parlierten Russisch. Sopo war nicht zu sehen. Sie mochte Liebeskummer haben oder Zahnschmerzen oder einfach ihre Launen nicht in den Griff kriegen.
Ich saß in meinem Zimmer und starrte durch das offene Fenster. Das Mondlicht stahl sich herein. Kein Regen mehr. Angenehm milde Luft rieselte durch das Tal. Mein Notebook lagerte unter der Bettdecke. Die Stadt atmete flach, als sei sie darauf bedacht, sich auch bei Trockenheit nicht allzu fröhlich zu geben. Der Mond lugte in mein Zimmer. Er war beinahe voll.
Ich fragte mich, wie Mira ihre einsamen Nächte im Ausland verbrachte. In meinem früheren Leben hatte ich es auf den Reportagereisen darauf angelegt, erträgliche Männer kennenzulernen. Abgelehnt hatte nie einer, wenn ich den ersten Schritt gemacht hatte. Sehr viel seltener war ich mit Frauen in ein schickes Restaurant oder ein Café gegangen. Auch in meinem Gepäck war, wie in Miras Trolley, immer eine elegante Klamotte gewesen – nur für den Fall. Dankbar dachte ich an Juliane. Ganz in der Nähe war jemand, dem ich vertraute. Dieses Gefühl war neu. Ich war nicht mehr auf mich allein angewiesen. Begann, meine Sehnsucht nach einer starken Begleiterin nicht mehr als Versagen zu interpretieren. Juliane gab mir Zuversicht. Keine Sicherheit, die darauf beruhte, dass man statistische Prognosen über die Wahrscheinlichkeit von gefährlichen Vorfällen abfragte. Sondern Vertrauen, das mit der eigenen Fähigkeit, auf Unwägbares zu reagieren, zusammenhing. Weil der Mensch sich die ganze lange Evolution hindurchgewerkelt hatte. Ohne sich vorbereitet, ohne Expertenmeinungen abgefragt, ohne geplant zu haben. Unsere Art hatte einfach überlebt. Demnach standen die Karten für eine gewisse Kea Laverde wohl auch nicht so schlecht. Eine Wolke schickte den Mond ins Bett. Im Zimmer wurde es dunkel.
Ich schaltete das Licht ein, schickte Nero eine SMS und legte mich ins Bett, fühlte das Notebook unter meinen Fersen.
Wir mussten herausfinden, ob die Leiche in der Schlucht Mira war. Oder Clara. Und ich wusste auch schon, wie.
»Du bist nicht gescheit!« Fassungslos starrte ich Juliane an.
»Hast nur du das Recht auf eine Affäre?«, blaffte sie zurück.
Es war früher Nachmittag. Wir waren zurück in Tbilissi, wo der Frühling über dem Fluss schwebte und die belanglose Heiterkeit der Stadt anfachte wie ein Lagerfeuer. Der Lärmpegel war noch höher, die Abgase noch blauer. Wir saßen in Julianes Zimmer. Eigentlich wollten wir unsere weitere Strategie besprechen. Das Fenster stand offen. Der Fernsehturm winkte von seinem Berg zu uns herunter.
»Du hast mit Wano …?«
»Na und? Ein georgischer Metallarbeiter, jetzt arbeitslos. In diesem Land wird kaum etwas produziert. Also ist er Fahrer. Kann ja nicht jeder einen israelischen Kapitalisten vögeln.«
Ich hatte sie verletzt. Anderenfalls würde sie nicht mit den alten Placebos um sich schlagen.
»Mag sein, dass Wano ein viel interessanteres Leben hat als dein Israeli«, schnauzte Juliane. Die Kreolen zappelten an ihren Ohren wie die Gondeln eines Kettenkarussells. »Der Israeli hat eine Karriere. Wano hat ein Leben. Er war Held des Sports in der Sowjetunion. Ein Ass im Geräteturnen. Als alles zusammenbrach, während des Bürgerkrieges unter dem
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