Wernievergibt
ersten Präsidenten des unabhängigen Georgien, hat er seine Frau verloren. Sie saß mit einer Freundin in einem Café in der Altstadt, und plötzlich flogen die Granaten. Keiner hatte mit so etwas gerechnet. Der Krieg ist unvermittelt ausgebrochen. Wie ein Virus. Die haben mit Feldartillerie in der Stadt rumgeschossen.«
»Wer?«
»Milizen!« Juliane zog sich vor meinen Augen bis auf die Unterwäsche aus, drehte alles zu einem Knäuel zusammen und stopfte es in die Hotelwäschetüte. »Was glotzt du denn so? Ist alles verschwitzt.« Sie kramte ein frisches Paar Hosen aus dem Schrank. »Es ist einfach so, Kea: Das Leben ist nicht planbar. Entscheidend ist sekundenschnelle Anpassungsfähigkeit. Nur so überlebst du. Mit allem Schmerz und allem anderen. Du lernst, dass es weitergeht. Und selbst im allerdreckigsten Sumpf sagst du dir immer wieder: Es ist nur eine Frage der Zeit. Keine Situation ist wirklich ausweglos.«
»Denkst du an Dolly?« Es war aus mir herausgerutscht. Hilflos warf ich einen Blick auf den Fernsehturm. Er zwinkerte mir zu.
»Natürlich denke ich an Dolly. Sie ist ja meine kleine Schwester, oder?« Juliane wühlte nach einer Bluse. Sie trug einen BH, obwohl sie keinen gebraucht hätte. »Als wir Kinder waren, war sie mein Baby. Ich habe immer Verantwortung für sie übernommen. Bis wir wegen einer Kleinigkeit aneinandergerieten. Und auseinander.«
»Was für eine Kleinigkeit?«
»Nicht wichtig.«
»Nicht wichtig?«
»Jetzt nicht mehr!« Sie knöpfte die Bluse zu. »Zu spät. Nie geklärt. Verdammte Schuld.«
Juliane, die großherzige. Der man von außen nicht ansah, dass sie ihr letztes Hemd für jemanden geben würde, den sie liebte, und dass es Glück für sie bedeuten würde. Man prallte an ihrem ruppigen Benehmen ab. Man bemerkte die Distanz, die sie zu allen hielt, die sie mochte, weil Nähe verwundbar machte. Und weil Nähe und Liebe das Potenzial enthielten, andere zu verwunden, auch wenn man das nicht wollte.
Zwei Stunden später, nachdem wir uns mit einer großen Portion Chinkali in einem Restaurant ein paar Meter unterhalb unseres Hotels gestärkt hatten, fuhren wir mit dem Taxi in die Kostawa-Straße, wo Sopo vor dem Polizeirevier auf uns wartete. Das Gebäude bestand ganz aus Glas. »Sie signalisieren Transparenz«, flüsterte Juliane mir zu. »Der Kampf gegen die Korruption ist zwar längst nicht gewonnen. Aber man ist ein großes Stück weitergekommen.«
Ein bulliger Beamter mit traurigen Augen und dickem, schwarzem Haar, dessen düsterer Gesichtsausdruck mich an einen argentinischen Fußballprofi nach einem verschossenen Elfmeter erinnerte, schäkerte mit Sopo, bevor er uns in ein Büro führte. Dort stellte er sich mit einem knappen »Mischa Kawsadse« vor und bot uns Platz auf Plastikstühlen vor seinem Schreibtisch an. Die Klimaanlage kühlte den Raum auf gefühlte 15 Grad herunter. Sorgenvoll dachte ich an meinen Schnupfen.
»Wir hätten gern Klarheit, ob die Leiche in der Schlucht in Meßcheti Clara Cleveland oder Mira Berglund ist«, sagte ich, nachdem wir 20 Minuten mit Plänkeleien vom Typ ›Wie gefällt es Ihnen in Tbilissi, was haben Sie schon gesehen, sind Sie zum ersten Mal in Georgien‹ verschwendet hatten. Zum Glück gestaltete Juliane weitgehend das Vorspiel. Meine Aufgabe war es, zum Punkt zu kommen.
»Das wird eine Menge Formalitäten erfordern«, dolmetschte Sopo.
»Das ist uns klar«, sagte Juliane und lächelte ihr Maikäferlächeln. Sie hatte Make-up aufgetragen, dezent, nur die Lippen leuchteten feuerrot. Der Kontrast zu ihrem weißen Haar war umwerfend. »Es würde uns wirklich beruhigen, wenn wir wüssten, dass keine unserer Freundinnen …« Vielsagend rollte sie mit den Augen.
Kawsadse fraß ihr bereits aus der Hand.
»Im Hotel Mari lagern Mira Berglunds Sachen. Die Zahnbürste reicht sicher für eine DNA-Probe.« Ich wollte auch mal was sagen. »Gleiches gilt für Clara Cleveland. Sie wohnt im Marriott.«
Kawsadse brauchte ungefähr fünf Minuten für Ausführungen, die Sopo in dem kurzen Satz: »Leider sind unsere forensischen Möglichkeiten nicht so gut wie Ihre in Deutschland« zusammenfasste. »Aber ich will sehen, was sich tun lässt.« Er beorderte eine Sekretärin herein, die auf mindestens zehn Zentimeter hohen Pumps über den Parkettboden stöckelte. In raubauzigem Tonfall diktierte Kawsadse ein paar Zeilen, die die Sekretärin in einen Rechner tippte. Sie setzte zu einer längeren Erklärung an. Fragend sah ich zu Sopo, die
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