Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wernievergibt

Wernievergibt

Titel: Wernievergibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friederike Schmöe
Vom Netzwerk:
sich selbst zum Erliegen brachte. Herrschaftliche Häuser um uns.
    »Hier waren wir doch schon mal!«, sagte ich unwillig.
    »Genau, in der Uni, um Sopo zu finden. Schau: Sina’s Café. Das ist unseres.«
    Kristin erwies sich als füllige Frau Mitte 50 mit warmen, grauen Augen und kurzem, fast weißem Haar, das sie mit Gel verwuschelt hatte. Sie trug ein schwarzes, ärmelloses Shirt, eine locker sitzende, karierte Hose und Crocs an den Füßen. Fröhlich sah sie Juliane an und sagte: »Wie schön, Sie haben graue Haare!«
    Mir blieb der Mund offen stehen.
    »Nein, wissen Sie, in Georgien färben alle Frauen ihre Haare. Das ist ganz selten, dass jemand so herumläuft wie ich.« Sie fuhr sich über den Kopf.
    »Außerdem tragen Sie keine High Heels«, sagte ich. Meine Füße steckten in den neuen Sandalen. Ich fühlte mich verkleidet.
    Kristin lachte. »Freut mich, Sie zu treffen. Was nehmen Sie?«
    Wir bestellten frisch gepressten Orangensaft und erläuterten den Grund unseres Treffens. Schande über mich, dachte ich. Kristin hatte ich mir ganz anders vorgestellt: als aufgeplusterte Amerikanerin mit schriller Stimme und dem Credo, dass jeder alles erreichen kann, wenn er nur will. Selbstoptimierung, Coaching und Netzwerken als Grundlage des Glücks.
    »Clara ist verschwunden?«, fragte Kristin ungläubig. Ihr Gesicht war gebräunt, als verbrächte sie viele Stunden täglich in Sonne und Wind. »Das gibt’s nicht!«
    »Doch. Aus gutem Grund nehmen wir an, dass sie in dem Wagen saß, von dem Juliane gerade erzählt hat«, begann ich. »In ihrem Tagebuch hat sie Sie erwähnt. Das Gespräch mit Ihnen scheint sie erst dazu angeregt zu haben, Tagebuch zu führen.«
    »Hat sie damit angefangen?« Kristin lächelte zufrieden. »Freut mich sehr.«
    »Haben Sie und Clara sich nach dem Abend im ›Old House‹ noch einmal getroffen?«
    »Nein. Das war das einzige Mal. Ich wollte zu dem Auftritt im Konservatorium gehen, aber dann kam eine private Einladung dazwischen.«
    »Warum freut es Sie so, dass Clara begonnen hat, Tagebuch zu schreiben?«, fragte Juliane.
    »Am besten schildere ich Ihnen einfach die Prinzipien meiner Arbeit«, schlug Kristin vor. »Ich bin studierte Psychologin und Psychotherapeutin. Einige Jahre unterhielt ich mit einer Kollegin eine therapeutische Praxis in Seattle. Die Tätigkeit ging mir immer mehr auf den Geist. Zunächst nahm ich an, dass meine Unzufriedenheit im Job mit den Patienten zu tun hatte. Lappalien brachten ihr Leben durcheinander. Sie hatten alles – Geld, Schönheit, Partner, Kinder – trotzdem gingen sie die Wände hoch vor Unzufriedenheit. Ich überschrieb meinen Teil der Praxis an meine Kollegin und ging auf Reisen. Nach Südamerika, Europa. Und nach Georgien.«
    »Um für sich selbst herauszufinden, was Sie tun wollten?«, fragte ich begierig.
    »Genau. Ich wollte wissen, warum wir Amerikaner so reich, so frei und so unglücklich sind. Eigentlich wollte ich von Georgien nach Indien weiter, doch dazu kam es nicht. Ich blieb hier hängen. 1995. Die politische Lage hatte sich halbwegs beruhigt, die Straßen waren zumindest tagsüber sicher. Nachts blieb man besser zu Hause. Ich wohnte bei einer Familie hier in Wake, nicht weit vom Park entfernt. Oft gab es keinen Strom und kein Wasser. Wenn wir des Nachts im Finstern saßen, hörten wir mitunter Schüsse von irgendwoher. Meine Gastgeber versicherten mir emsig, da würden ein paar Nachbarn ihre Möbel aus dem Fenster werfen. Natürlich stimmte das nicht, sie wollten mir nur die Angst nehmen.« Kristin trank von ihrem Saft. »Ich kam eines Tages an einem winzigen Laden vorbei, in dem eine alte, verhutzelte Frau Notizhefte verkaufte. Sie tat mir leid. Sie schien fast blind, eines ihrer Augen tränte unaufhörlich. Sie stank. Nach Krankheit, nach Ungewaschen. Ich nehme an, sie lebte in dem Laden, der nicht größer war als eine Toilettenkabine. Also kaufte ich ein Heft. Mitleid, eine Gefühlsregung, die ich bis dato für ziemlich unnütz gehalten hatte, veränderte mein Leben. Nachts saß ich bei Kerzenschein in der Wohnung und schrieb in mein Heft. Es beruhigte mich.«
    Ich wusste, bevor sie weitersprach, wovon sie redete. Wir waren seelenverwandt. Schreiben erdete. Die Welt wurde ein sicherer Ort, wenn die Hand sich mit einem Stift übers Papier bewegte. Gedanken und Emotionen wurden Materie – und damit beherrschbar.
    »Ich überließ meine inneren Spannungen, meine Ängste und unklaren Pläne dem Tagebuch. Das verwirrende, fremde

Weitere Kostenlose Bücher