Wernievergibt
Land um mich war nicht mehr gefährlich – es wurde mein Partner bei der Suche nach Antworten auf meine Fragen. Ich begann mein Verhalten den Georgiern gegenüber zu verstehen, die ich oft als zu nah, zu liebevoll, zu interessiert an meinem Leben empfand.«
»Zu liebevoll?«, unterbrach ich erstaunt.
»Wenn Sie hier privat zu Gast sind, können Sie keinen Schritt alleine tun. Überallhin werden Sie begleitet. Das kann sogar lästig werden! Obwohl es eben liebevoll gemeint ist. Die Gastgeber wollen, dass man sich wohlfühlt, nicht verloren geht.«
Drei Mädchen kamen ins Café. Studentinnen, mit Büchern unterm Arm und Handys in der Hand. Geschminkt, schick, bleistiftdünne Absätze.
»Ich blieb ein halbes Jahr in Georgien. Immer, wenn ich mich zum Reisebüro aufmachte, um einen Flug zu buchen, kam etwas dazwischen. Ich unterrichtete Englisch, um meine Reisekasse aufzufrischen. Meine Schüler, die ich meistens in ihren beengten Wohnverhältnissen zum Unterricht aufsuchte, waren erpicht darauf, ins Ausland zu gehen. Nur weg aus diesem zerrissenen Land, in dem keine Post funktionierte, Raubmorde auf den Straßen an der Tagesordnung waren, in dem irgendeine Mafia die Stromversorgung übernahm, und in dem es einem egal war, ob man die Mafia bezahlte, wenn man denn endlich nur verlässlich Strom hatte. Die Korruption war haarsträubend! Ich begann, diese Schüler zu ermuntern, Tagebuch zu schreiben. Nicht pflichtbewusst alle Ereignisse zu notieren, sondern mit Ereignissen in Kontakt zu treten. Ein Bild ihrer Sehnsüchte und Hoffnungen zu zeichnen. Träume wenigstens auf dem Papier wahr werden zu lassen. Zunächst war das Schreiben eine nützliche Übung, um in der Fremdsprache sicherer zu werden.«
»Aber dann wurde mehr daraus«, sagte ich halblaut.
Kristin nickte. »Ich brachte ihnen die Hefte umsonst mit, wurde Stammkundin bei der Alten, die sie verkaufte. Ich schrieb selbst eifrig weiter. Stets auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, die sich mir als Therapeutin aufgedrängt hatte: Warum haben die einen alles und sind unglücklich? Und die anderen leben in der prekärsten Situation, die eine Amerikanerin sich vorstellen kann – und sind nicht unglücklicher?«
»Wie lautet die Antwort?«, fragte Juliane mit gerunzelter Stirn.
»Nun, die Antwort lautet oberflächlich sehr amerikanisch«, lachte Kristin. »Es kommt darauf an, was man draus macht. Die eigentliche Antwort liegt viel tiefer verborgen, und man muss eine Weile hier leben, um sie zu entdecken. Der Zusammenhalt unter den Menschen ist hier tausendmal stärker als im Westen. Man hilft einander immer und überall, ohne Verabredung und spontan. Wenn deine Cousine dich bittet, dir beim Kochen zu helfen, weil du Gäste aus dem Ausland hast, wird sie niemals ablehnen. Selbst wenn der Tag für sie dadurch gelaufen ist. Das soziale Netz ist dicht gewebt. Auch der Gast erlebt das: Du wirst hier überall und ständig eingeladen, beschenkt, ausgeführt. Alles wird für dich bezahlt! Im Restaurant anzubieten, die Rechnung zu übernehmen, kommt einem Affront gleich! In Amerika sagst du deinem Gast: O. k., hier ist der Kühlschrank. Bedien dich. Wir sind nicht unfreundlich zu unseren Gästen. Nur nicht wirklich involviert. In Georgien kommt der Gast von Gott. So lautet ein Sprichwort.«
Mir dämmerte, dass eine Reise von Hotel zu Hotel mich niemals mit diesem Land in Berührung bringen würde. Ich wollte auf Clara zurückkommen.
»Sie haben Clara empfohlen, Tagebuch zu schreiben. Warum eigentlich?«
»Hat sie das in ihrem Journal so geschrieben?« Kristin grinste. »Ich mochte Clara vom ersten Moment an. Ich sah sie und dachte: Hey, was für ein liebes Mädchen. Ich erkannte sie nicht einmal. Sie saß an ihrem Tisch, ungeschminkt, in Jeans und Bluse. Wirkte sehr jung und sehr zerbrechlich. Natürlich kann ich die Psychotherapeutin nicht abstreifen wie alte Schuhe. Clara interessierte mich – ja, auch irgendwie therapeutisch.«
»Was für ein Typ Mensch ist Clara Cleveland?«, fragte Juliane.
»Ein widersprüchlicher. Clara möchte die gefeierte Sängerin sein, die Geld verdient und im Restaurant erkannt wird. Dann wiederum möchte sie das kleine Mädchen sein, das sich auf den Schoß seiner Mutter kuschelt.«
»Großmutter«, warf ich ein.
»Großmutter?«, fragte Kristin verwirrt zurück.
»Ihre Mutter ist längst tot. Sie sehnt sich nach ihrer Großmutter. Die ist spurlos verschwunden – noch zu Sowjetzeiten.«
Kristin dachte einen
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