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Werwelt 01 - Der Findling

Werwelt 01 - Der Findling

Titel: Werwelt 01 - Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Stallman
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den Kopf ein kleines Stück aus dem Gras und spüre nach dem Mann mit der Flinte. Er steht immer noch hinter der Tür, geschützt durch das Fliegengitter. Ich kann ihn kaum entdecken. Die Tür öffnet sich, und Martin schleicht hinaus in den Schatten neben der Regenzisterne. Im schwachen Mondlicht geht er bis zum Gartentor und ruft Biff und Josie, die sich beide nicht rühren. Er kehrt zur Veranda zurück, und ich höre das metallische Knacken des Riegels am Fliegengitter. Er verschwindet aus meinem Wahrnehmungsbereich.
    Was hat er gesehen? Im Geist breite ich sein Blickfeld vor mir aus, von der Hintertür zu der Stelle, wo ich stand, als ich die Eule fressen wollte. Viel konnte er bei dieser Beleuchtung nicht gesehen haben, einen Schatten vielleicht, der auf die Hinterbeine aufgerichtet an einem Baum stand und dann einen Zaun entlanghuschte.
    Beinahe hätte ich Robert vergessen. Es kann leicht sein, daß Martin hinaufgeht und in sein Zimmer schaut, ehe er sich wieder zu Bett legt. Ich mache den ersten Schritt die Böschung hinauf, als von der Veranda her ein Geräusch an mein Ohr dringt. Dieser listige Bursche! Er ist immer noch da, unsichtbar und unentdeckbar hinter dem Fliegengitter. Ich erstarre, spanne meinen Gehörsinn bis zum äußersten, während ich mit meinem Raumsinn forschend durch das Fliegengitter dringe. Da ist er, senkt jetzt die Flinte, geht zurück in die Küche. Fort. Nirgends geht ein Licht an. Vielleicht heißt das, daß er doch nicht bei Robert hineinschaut, aber ich lasse es nicht darauf ankommen.
    Ich husche die Böschung empor, springe von Schatten zu Schatten hinüber zu dem Pfirsichbaum, der unter Roberts Fenster steht, ziehe mich vorsichtig an den dicken Ästen hoch, bis ich mit den Pfoten das Fensterbrett erreichen kann. Mit einer Tatze schiebe ich das Fenster so heftig hoch, daß es sich oben schräg stellt und verklemmt. Im nächsten Moment höre ich Martins Schritte im Flur, schwinge mich durch das Fenster und lasse mich auf der anderen Seite ins Zimmer fallen. Und im selben Moment verwandle ich mich, so daß es den Anschein hat, als hätte sich Robert eben vom Fenster abgewandt, als Martins stämmiger Schatten unter seiner Tür auftaucht.
    »Was war denn, Papa?« Ich gratuliere Robert zu dem »Papa«. Jede Ablenkung hilft, denn ich weiß immer noch nicht, was der Bauer gesehen hat.
    »Tut mir leid, daß ich dich geweckt hab’, Robert«, sagte der Bauer und ging leise zu dem nackten Jungen, der am offenen Fenster stand. »Du meine Güte, immer ziehst du dein Nachthemd aus. Du holst dir noch mal den Tod. War wahrscheinlich ein streunender Hund, der sich da unten rumgetrieben hat. Ich mußte auf ihn schießen. Das sind schlimme Burschen, weißt du.«
    Er trug Robert zum Bett zurück.
    »So, und jetzt bleibst du schön unter der Decke. Ich mach dein Fenster zu.«
    Vom Bett aus konnte Robert undeutlich Martins breiten Schatten ausmachen, der mit dem Fenster kämpfte. Es saß fest.
    »Wie hast du das denn fertiggebracht?«
    Er stöhnte und ächzte und riß schließlich mit einem kräftigen Ruck das Schiebefenster ganz aus seinem Rahmen. Das Krachen und Splittern brachte Tante Cat auf die Beine, die, ein langer, schmaler Schatten, ärgerlich ins Zimmer trat, ihren Morgenrock fest um sich ziehend.
    »Also wirklich, Martin! Was machst du eigentlich? Erst ballerst du mitten in der Nacht draußen herum und jetzt machst du einen Riesenspektakel. Was soll das eigentlich? Ach, du lieber Gott, schau dir das an! Das ganze Fenster rausgerissen. Das ist ja eine schöne Bescherung.«
    Das darauffolgende Hin und Her von Erklärungen und Widerreden reichte völlig aus, Martin von allen Überlegungen darüber, was er gesehen hatte, abzulenken, und so plötzlich und heimlich, wie eine Eule eine Maus schlägt, fiel Robert wieder in tiefen Schlaf.
    Jetzt, wo Robert nachts nicht mehr eingesperrt wird, ist’s mir ein leichtes, mich davonzumachen. Ich kann draußen auf freiem Feld auf Hasenjagd gehen oder am Bach und an den Hecken reizvollerem Wild auflauern, wie Füchsen, Nerzen oder sogar wilden Hunden.
    In einer mondlosen Nacht gegen Ende Mai, als die Setzlinge gerade anfangen, den Feldern ein zahmes, wohlgeordnetes Aussehen zu geben, schlüpfe ich wie üblich hinaus, verstaue Roberts Nachthemd in der Scheune und atme wieder einmal aus tiefstem Herzen auf. Es ist immer eine Erleichterung, nach langer Zeit in fremder Gestalt die eigene wieder anzunehmen. Die Welt rundum wird wieder wirklich, die Geräusche

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