Werwelt 01 - Der Findling
kränklichen Wurf.
»So ein Schmarrn«, sagt der Älteste hustend. »Du hast was von Läusen in Pelzmänteln geträumt und bist in den Bach gefallen. Du hast zuviel Wein gesoffen.«
»Das war kein Traum. Kann sein, daß es ein großer Hund war.«
»Ha, du hast bestimmt von der Kleinen geträumt, die uns das Brot gibt«, sagt der magere Jüngere.
»Kein bißchen hab’ ich geträumt und besoffen bin ich auch nicht. Ich sag’s euch, es war was Lebendiges, vielleicht ein Bär«, erklärt der, den sie Gus nennen. Er ist in einen alten zerfetzten Mantel vermummt und zittert wie verrückt.
Sie lachen alle.
»Ha, ha, Gus ist von einem Bären in den Bach geschubst worden.«
Die Erheiterung hält nicht lange an. Ihre Körper haben einen ranzigen, widerlichen Geruch. Sie sind nicht gesund wie der Bauer und seine Frau. Der Älteste hat eine Krankheit, die seinen Körper verzehrt. Ich rieche sie, aber ich hab’ keine Erfahrung mit so etwas, und ich weiß nicht, was es sein könnte. Nach einer Weile legt der Älteste sich wieder nieder, und der kleingewachsene schweigsame Mann streckt sich wieder im Schmutz aus und zieht einen breitkrempigen Hut über seine Augen. Gus und der Magere bleiben sitzen und rauchen eine Zigarette fertig, während sie blind ins schwarze Unkraut hinausstarren, wo ich kauere und zu ihnen zurückblicke.
»Rusty meint, wir sollten morgen nach Chi weiter«, sagt der Magere.
»Ja, glaub ich auch«, sagt der andere. »Aber so schlecht geht das Geschäft hier gar nicht. Man braucht nur ein bißchen auf die Tränendrüsen zu drücken. Gestern hab’ ich so ’ner alten Tante vierzig Cents abgeluchst.«
Er zieht an der Zigarette. Sein Gesicht tritt aus dem Schatten heraus. Er hat einen sehr schmalen Kopf, beinahe wie ein Huhn, kaum eine Stirn. Die Augen liegen sehr tief, fast seitlich in seinem Gesicht.
»Tommy!« sagt die Stimme von dem, den sie Rusty nennen, und der sich den Hut übers Gesicht gezogen hat. »Los, mach, daß du hier rüber kommst, ich friere.«
Tommy sagt nichts, steht auf und geht hinüber zu Rusty, um sich dicht neben ihm hinzulegen.
Gus steht ebenfalls auf, den Mantel fest um sich gezogen. Sein Haar berührt beinahe die gewölbte Betondecke. Er ist ein großer, breitschultriger Mann mit einem großen Kopf, aber als er zu seinem Nest im Unkraut zurücktrottet, fallen seine Schultern gekrümmt nach vorn, und er erscheint kleiner.
Auf mich hat diese Begegnung, das Vernehmen ihrer Worte, die Wahrnehmung ihrer schalen Ausdünstung eine seltsame Wirkung. Ich hab’ das Gefühl, wenn ich mich jetzt verwandelte, würde ich nicht Robert werden, sondern ein anderer. Es ist ein beunruhigendes Gefühl, und ich wende mich schließlich von dem kleinen Lager unter der Eisenbahnbrücke ab und laufe zum Gehöft zurück, ohne noch irgend etwas zu sagen.
Am folgenden Tag kam Tante Cats älteste Tochter auf den Hof und brachte ihr kleines Mädchen mit, Anne, die etwas älter war als Robert. Die Mutter wurde Vaire gerufen, aber das war nicht ihr richtiger Name. Anne war einen halben Kopf größer als Robert, hatte das goldblonde Haar und die blauen Augen ihrer Mutter, doch ihr Haar war lang und umrahmte ihr Gesicht in dichten Locken, die aussahen wie goldene Korkenzieher. Nachdem die beiden Kinder miteinander bekanntgemacht worden waren und Erlaubnis erhalten hatten, nach draußen zu gehen und zu spielen, trotteten sie zum Sandkasten neben dem Gartenzaun. Anne pflanzte sich, die Hände in die Hüften gestemmt, mitten im Sand auf. Sie trug ein schwingendes rosafarbenes Kleid und darüber eine weiße Schürze.
»Großpapa Nordmeyer hat den Sandkasten für mich gemacht«, verkündete sie.
»Er hat gesagt, daß ich auch darin spielen darf«, versetzte Robert, dicht am Rand des Kastens stehend.
»Aber meine Förmchen kriegst du nicht«, erklärte Anne und sammelte ein halbes Dutzend kleiner Formen auf, die Robert im Sand gefunden hatte.
»Ich wußte nicht, daß sie dir gehören«, sagte Robert, während er zusah, wie sie die Förmchen in die Taschen ihrer Schürze stopfte. Sie klirrten bei jedem ihrer Schritte. »Gehören die Autos auch dir?« fragte er.
Stumm sah er zu, wie sie versuchte, auch die kleinen Autos in ihre Taschen zu stopfen. Schließlich gab sie sich damit zufrieden, die Wagen an einer Wand des Sandkastens aufzustapeln und im Sand einen Halbkreis um sie herumzuziehen.
»So«, sagte sie. »Die gehören mir. Rühr sie ja nicht an.«
Als Robert gegen diese besitzsichernden
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