Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Werwelt 01 - Der Findling

Werwelt 01 - Der Findling

Titel: Werwelt 01 - Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Stallman
Vom Netzwerk:
worden waren, ihre Faszination für ihn. Die Frage ging in der Hektik der anderen Stunden unter, und er dachte eine ganze Weile nicht mehr darüber nach.
    Als das Erntedankfest heranrückte, hatte Charles das gesamte Mathematikpensum der dritten Klasse absolviert, las die Bücher drei und vier fließend, und versuchte sich an Büchern aus der »Bibliothek«, die mit fünf und sechs Sternen auf dem Rücken gekennzeichnet waren. Er las mit Douglas um die Wette, wenn die Wörter nicht allzu unvertraut waren.
    Miss Wrigley und Charles saßen sich eines Nachmittags nach der Schule gegenüber und sprachen über Charles’ jüngste Leistung; er hatte soeben eine schriftliche Prüfung über eine Geschichte bestanden, die die fünfte Klasse zu Beginn des Jahres gelesen hatte.
    »Ich glaube wirklich, Charles«, meinte Miss Wrigley, »daß wir dich im nächsten Halbjahr, das im Januar beginnt, in die fünfte Klasse übernehmen können.« Sie lächelte und griff über den Tisch, um Charles’ Hand zu nehmen, die er hin und her schlenkerte, um den Schreibkrampf loszuwerden. »Wäre das nicht herrlich? Ich meine, in einem einzigen Halbjahr solche Fortschritte zu machen, daß man von der ersten in die fünfte Klasse springen kann?«
    »Ich weiß nicht, ob ich die Bürgerkunde schon schaffe, Miss Wrigley«, erwiderte Charles stirnrunzelnd.
    »Ich habe das größte Vertrauen in dich«, versicherte Miss Wrigley. Und dann blickte sie hinauf zu der großen achteckigen Uhr, die beinahe auf fünf stand. »Ich muß jetzt gehen. Ich habe noch eine Menge Arbeiten zu korrigieren und heute Abend muß ich zu einer Versammlung vom Buchklub in die Stadt.« Sie stand auf, glättete ihren Rock und blickte noch einmal auf Charles, der, in Gedanken verloren, sitzen geblieben war. »Charles?«
    »Ja, Madame?«
    »Was hast du denn am Donnerstag vor, wenn überall die großen Festessen zum Erntedankfest gegeben werden?«
    »Ach, ich nehm an, ich werd’ mit Mrs. Stumway essen«, antwortete Charles, der ein wohltätiges Angebot kommen sah. »Sie kocht nicht schlecht, wissen Sie.«
    »Das glaube ich, Charles. Man braucht dich ja nur wachsen zu sehen. Aber mir ist eben eingefallen, daß ich am Donnerstag bei guten Freunden von mir in der Stadt esse. Ich glaube, sie würden sich freuen, einen Lokalhelden und aufstrebenden jungen Gelehrten an ihrem Tisch zu sehen.«
    Charles wäre am liebsten aufgesprungen und hätte ja geschrien, doch er verkniff es sich und tat so, als dächte er darüber nach, wie das auf Mrs. Stumway wirken würde, obwohl er genau wußte, daß es sie ungefähr ebenso wenig kümmern würde wie die Frage, ob der Kaiser von China zum Frühstück Tee oder Kaffee trank.
    »Ja, Miss Wrigley, ich würde wirklich gern mitkommen, wenn die Leute nichts dagegen haben.«

    Das Haus von Victor und Lucilie Boldhuis war klein, adrett und voll von interessanten Souvenirs, die sie von ihren vielen Reisen mitgebracht hatten. Im Wohnzimmer überschattete ein kleiner Flügel die wenigen anderen Möbelstücke, die zum Beweis dafür, daß der Raum wirklich ein Wohnzimmer und kein Klavierkasten war, an den Wänden standen. Charles hatte noch nie einen Flügel gesehen und betrachtete den halbgeöffneten Deckel mit Interesse, während ihm Miss Wrigley flüsternd erzählte, daß Victor unter anderem Klavierstimmer war und das Instrument aus einer Fuhre von Teilen zusammengebaut hatte, die er auf einer Auktion erstanden hatte; weiter, daß Lucilie in jüngeren Jahren beinahe Konzertpianistin geworden wäre.
    Victor Boldhuis war ein kleiner, rundlicher, schwarzhaariger Mann Ende dreißig, mit einem kahlen Fleck auf dem Kopf, der wie eine Mönchstonsur aussah, und einem Gesicht, das offenbar immer nur lächelnde Miene zeigen konnte. Die Bemerkungen, die er Charles zuwarf, während sie in dem alten schwarzen Ford zur Stadt fuhren, waren größtenteils scherzhaft gemeint. Anfangs beunruhigten sie Charles, dann mußte er darüber lächeln und nahm sich vor, sich einige davon zu merken, um sie später selbst anbringen zu können. Schon auf der Fahrt zur Stadt kam Charles zu dem Schluß, daß Mr. Boldhuis ein harmloser und ausgesprochen netter Mensch war, wobei er nicht ahnte, daß dieser Eindruck auf das absichtliche Bemühen des Mannes zurückzuführen war, einem nervösen Jungen die Befangenheit zu nehmen.
    Lucilie Boldhuis schien auf den ersten Blick das genaue Gegenteil ihres Mannes zu sein, eine schlanke, schmalgesichtige Frau mit grauen Strähnen im Haar und einem

Weitere Kostenlose Bücher