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Werwelt 01 - Der Findling

Werwelt 01 - Der Findling

Titel: Werwelt 01 - Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Stallman
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wie das nur meine wahre Gestalt erlaubt, denke ich, und beschwingt und ermutigt durch die Musik, die durch die offene Tür strömt und das ganze Haus erfüllt, vom Wein, von der gehobenen Stimmung der ruhigen und intelligenten Menschen, unter denen ich mich höchst sicher fühle, verwandle ich mich. In meiner wahren Gestalt stehe ich im dunklen Flur, den Rücken an die Tapete gepreßt, und die Musik durchflutet plötzlich alle meine Sinne, so daß jedes einzelne Haar meines Felles sich aufstellt. Mein Raumsinn erfaßt die sich kräuselnden Klangwellen, die Oberschwingungen, die die Luft erzittern machen wie Tausende winziger singender Vögel, die flatternd jene Bereiche überwinden, in die das Ohr noch folgen kann, während sie sich höher und höher schwingen, bis die Wellenkreise ihrer Vibrationen sich in einer das Gehör nicht mehr miteinbeziehenden Eruption von Regenbogen und Blitzen auflösen. Die Untertöne sind sanftes Donnerrollen in einem sich überschneidenden Rhythmus, so rund und bauchig wie dunkle Kumuluswolken, die sich vor dem Horizont zusammenballen, während die Vögel, deren Schwingen sich in der Harmonie ihres Aufstiegs auf und nieder bewegen, verschwinden und in schnellen Arpeggios wiederkehren. Da sind Dunkelheit und Farbe, Mondlicht und Wasser, Kühle und Wohlbehagen unter dichtbelaubten Bäumen, die Weichheit von Gras unter meinen Füßen und die Geschmeidigkeit meines Fells, das vom Wasser geglättet wird, während ich wie ein großer brauner Otter durch die Wellen schieße, die sich zu grünen Bergen krümmen und auf dem Sand zerschellen, während ich durch das Grün fliege, ein Geschöpf des Wassers und der Luft, im Leben und über das Leben hinaus …
    »Charles!«
    Ich verwandle mich.
    Ich stehe unter der Tür. Ich blicke ins Wohnzimmer. Mutter hat eben Chopin gespielt, und Vater sitzt in seinem Sessel und hört zu. Ich möchte aufschreien und ihnen zurufen: »Ich finde mich nicht zurecht! Helft mir! Wo seid ihr?« Doch ich stehe im dämmrigen Flur, bestürzt, da zu sein, lebendig zu sein. Ich wünschte …
    Ich steige empor, fühle mich kleiner, falsch, während Wellen von Schmerz in mein neues bewußtes Selbst hineinströmen. Wer? Die Frau am Klavier dreht sich um und sieht mich an. Ihr Gesicht macht eine rasende Folge von Verwandlungen durch, als sie mich erblickt. Sie fängt an zu schreien, schreit, zertrümmert die Musik. Habe ich mich verwandelt? Ich bin nicht Charles. Ich halte das kleinere Menschenkind zurück, zu dem ich geworden bin. Er möchte ins Wohnzimmer hineinlaufen. Mir wird angst, als die andere Frau mich ansieht, und ihre Augen sich zuerst weiten, dann verengen. Ihre Züge machen eine gewaltsame Veränderung durch, so, als zöge und zerrte jemand an der Haut ihres Gesichts. Und ich sehe, wie der Mann mich anstarrt, und wie sein Lächeln schief wird und sein Mund sich öffnet, während sein Gesicht kreidebleich wird. Ich weiß jetzt, daß etwas Schlimmes geschehen sein muß, und ich drehe mich um, um den Flur zum Badezimmer hinunterzulaufen, wo ich mit einer kleinen, sommersprossigen Hand, die nicht Charles’ Hand ist, sondern eine viel kleinere, nach dem Türknauf greife. Habe ich mich in Robert verwandelt? Nein. Es ist nicht seine Hand, und langsam, so, als wäre die Zeit aufgehoben, schließe ich die Badezimmertür hinter mir und drehe den Riegel. Ich weiß genau, wie er gedreht wird, ich weiß genau, wie das Badezimmer aussieht, mein Badezimmer. Ich wende mich dem Spiegel zu, der an der Tür hängt.
    Ich sehe mich selbst, acht Jahre alt, schwarzes Haar, rundes Gesicht, Sommersprossen und der aufgeworfene Mund, der wie der meines Vaters ist. Ich wünschte …
    Doch ich muß mich rasch verwandeln, denn ich höre Schritte im Flur. Ich konzentriere mich. Ich verwandle mich. Das Bild im Spiegel erschreckt mich. Ich bin so groß, so groß beinahe, daß der Spiegel meine Gestalt nicht mehr faßt, erschreckender, als mir bewußt war. Es ist ein Schock, sich selbst zu sehen. Ich bin stark gewachsen und wußte es nicht.
    Jemand klopft an die Tür, und Miss Wrigleys Stimme sagt unsicher und ein wenig brüchig: »Charles?«
    Ich konzentriere mich, sage fest und bestimmt den Namen. Charles Cahill. Ich verwandle mich.
    Blond und hochgewachsen stand Charles im dämmrigen Badezimmer. Er öffnete die Tür und sah vor sich Miss Wrigley, die, eine Hand auf dem Mund, im Flur stand. Sie griff nach seiner Hand.
    »Komm mit ins Wohnzimmer, Charles«, sagte sie. »Es ist etwas sehr

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