Werwelt 01 - Der Findling
Mund, der traurig nach unten gezogen war. An der Tür schüttelte Charles ihr die Hand und sah mit Erstaunen, wie der Ausdruck des Kummers in ihrem Gesicht sich in strahlende Heiterkeit verwandelte, als sie lächelte. Das Lächeln veränderte ihre ganze Haltung mit einem Schlag, aus Trauer wurde Lebensfreude. Als das Lächeln erlosch, schien sie sich wieder in sich selbst zurückzuziehen und traurig zu werden. Es war schwer zu sagen, was sie wirklich empfand, dachte Charles, während er beim Essen am Tisch ihr Gesicht beobachtete. Sie schien aus einem Vakuum der Traurigkeit heraus zu reagieren, und die Wandlungen ihres Gesichts zu Lachen, Interesse und Bekümmerung oder Scherzhaftigkeit kamen ohne Ankündigung und vergingen ohne Abglanz. Angesichts der ganz gegensätzlichen Miene ihres Mannes, dessen permanentes Lächeln von einer runden Wange zur anderen reichte, mußte Charles an die beiden Masken denken, die tragische und die komische, die er vorn auf der Literaturgeschichte der achten Klasse gesehen hatte, die Miss Wrigley ihm einmal gezeigt hatte.
So üppig wie an diesem Abend hatte Charles noch nie gespeist. Da gab es den obligaten Truthahn mit einer köstlichen Füllung, Kartoffelpüree, in das irgend etwas Grünes hineingeschnitzelt war, Preiselbeergelee, grüne Bohnen mit knusprigem Schinken, süße Kartoffeln mit braunem Zucker und Marshmallows und dazu noch eine Platte mit Sellerie, Karotten und Radieschen zum Knabbern. Neben jedem Teller stand ein langstieliges Weinglas, rubinrot und wunderschön, als Mrs. Boldhuis die vier Kerzen in dem prächtigen silbernen Leuchter anzündete, der in der Mitte des Tisches stand. Charles fand es irgendwie schade, das schöne Bild dadurch zu zerstören, daß er einfach zu essen anfing, und er wartete im flackernden Kerzenlicht auf ein Zeichen von Miss Wrigley. Statt dessen jedoch hob Mr. Boldhuis sein lächelndes Gesicht und setzte sich hinter dem massigen Truthahn nieder, der noch nicht tranchiert war.
»Wir wollen den Herrn um Seinen Segen bitten«, sagte er.
Sie neigten alle die Köpfe, und Charles hörte zu, wie er eines der üblichen Gebete sprach, das mit den Worten begann: »Herr, wir danken Dir für alles, was wir von Dir empfangen haben.« Doch am Ende des Gebets, als Charles schon den Kopf heben wollte, hörte er, wie der Mann in verändertem Ton weitersprach.
»Und wir bitten Dich, o Herr, daß Du für uns unsere Lieben bewahrst, die Du in Deiner unerforschlichen Weisheit zu Dir genommen hast, damit wir eines Tages im Namen Jesu Christi wieder mit ihnen vereint sein mögen. Amen.«
Es dauerte ein, zwei Minuten, ehe nach dem Gebet die festlich fröhliche Stimmung sich wieder einstellen wollte, obwohl Mr. Boldhuis schon wieder seine Scherzchen machte, als er daran ging, den Truthahn zu zerlegen.
Charles aß, Miss Wrigley und die Boldhuis’ unterhielten sich über Bücher und Musik und Gedichte, über Namen wie Hemingway und Scott Fitzgerald und E. E. Cummings und Strawinsky, lauter Namen, die Charles nie gehört oder in Büchern gesehen hatte, die er gelesen hatte. Er machte sich Gedanken über die hohe Gelehrsamkeit dieser Menschen, die mit der klugen Miss Wrigley plauderten, als wäre solches Wissen und solche Vertrautheit mit den Künsten und der Wissenschaft etwas ganz Alltägliches. Nicht ein einziges Mal hörte Charles auch nur ein Wort über Kühe oder Schweine, über die Ernte oder den Markt, nicht ein einziges Mal vernahm er etwas über kürzlich Verstorbene oder über leidende Verwandte, Babys, die unterwegs waren oder langsam größer wurden, Krankheiten, die bei den Nachbarn vermutet oder erhofft wurden, hörte auch keine Bemerkung über das Wetter, das grau und trübe war und Schnee ankündigte.
Während des Essens nippte Charles immer wieder von seinem Wein, wie er das den Erwachsenen abgeschaut hatte, und allmählich nahm die Szene für ihn einen geheimnisvollen Zauber an und schien ihm umwittert von einem Ruch nach Unterwelt und heimlicher Verschwörung unter genialen Verbrechern, die irgendwo in einer versteckten Höhle beisammensaßen, während in der oberen Welt jedermann lustlos Maisbrei zum Frühstück aß, Sardinenbrot zum Mittagessen, Schweinekoteletts zum Abendessen und sich über die anderen das Maul zerriß. Er lauschte stumm, der Wein so stark und lieblich, daß er sein Inneres mit Wärme durchglühte, der Truthahn so köstlich, daß sein Mund nach ihm wässerte, dazu die feine Herbheit der Preiselbeeren und die Süße der
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