Werwelt 02 - Der Gefangene
keinen Sinn. Nur um Ihnen ein Beispiel zu geben – als unsere Großmutter Stumway, die in Illinois lebt, einen Jungen von ungefähr dreizehn Jahren bei sich aufnahm, der Arbeit und Unterkunft suchte, schickte meine Mutter ihr ein Amulett, das sie gegen alles Böse schützen sollte. Für den Fall, daß der arme Junge ein böser Geist in Menschengestalt wäre. Sie trägt selbst ständig so ein Ding um den Hals.«
»Ich kann verstehen, daß es für Sie schwierig ist, über diese Sache zu sprechen«, sagte Barry teilnahmsvoll.
»Verdammt schlimme Sache für die Kinder, würde ich sagen«, warf Bill ein.
»Ihre Mutter ist also immer noch der Meinung, daß mein Neffe ein böser Geist war?« fragte Barry.
»Ja, ich glaube schon. Ich habe sie schon Monate lang nicht mehr gesehen. Sie lebt jetzt wieder auf dem Hof und versucht, ihn zusammen mit dem alten John, der unserem Vater früher immer geholfen hat, zu bewirtschaften. Vaire weigert sich rundweg über die Geschichte zu sprechen, weil Walter sich jedesmal so aufregt, wenn sie auch nur eine Bemerkung darüber macht.« Sie drehte den Kopf und blickte zu ihrem Mann hinüber. »Walter ist ein Mensch mit festen Meinungen«, erklärte sie.
»Ein Dummkopf ist er«, versetzte Bill, dessen Glas schon zur Hälfte geleert war.
»Er ist ein netter Mensch«, sagte Renee rasch, »und Vaire und er haben ein schönes Zuhause, aber es gibt gewisse Dinge, über die er einfach nicht nachdenken will. Besonders hilfreich ist das alles nicht für Sie, nicht wahr, Mr. Golden?«
»Doch, doch«, entgegnete Barry ritterlich und nahm die Gelegenheit wahr, um ihr mit einem Lächeln tief in die Augen zu blicken. Es tat ihm gut zu sehen, daß ihr Blick unsicher wurde und eine feine Röte ihr in die Wangen stieg.
»Seit dem Tod von Leonard und Caroline ist alles irgendwie anders geworden. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen können, was ich sagen will, aber ihr Tod hat für mich vieles verändert. Die Welt ist nicht mehr die, die sie vor einem Jahr noch war. Ich habe nie daran gedacht, daß Leonard einmal sterben könnte. Er war immer da. Er war die einzige Familie, die ich hatte. Ohne ihn komme ich mir vor wie in einer fremden Welt. Oft habe ich immer noch das Gefühl, daß er in Wirklichkeit gar nicht tot sein kann.«
Wieder fühlte sich Barry von echtem Schmerz angerührt und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Er trank einen Schluck Wein, und als er aufsah, fing er einen Blick tiefen Mitgefühls von Renee auf. Wärme stieg in ihm auf bei diesem ersten echten Zeichen der Kommunikation. Sie betrachtete ihn noch immer voller Bekümmerung, als er ihr wieder in die Augen sah. Diesmal hielt sie seinen Blick aus.
»Ja, Mr. Golden, ich weiß, wie das ist. Mein Vater war ein so feiner Mensch, und er starb viel zu früh. Ich muß zugeben, es war mir eine Genugtuung, daß diese Männer nicht ungeschoren davonkamen und daß der Mann, der ihn erschossen hatte, auch sterben mußte, obwohl es entsetzlich war. Mein Vater war der beste Mensch der Welt.« Und jetzt standen ihr die Tränen in den Augen.
»Renee!« sagte Bill Hegel, der sich irgendwo außerhalb der Sphäre der Gemeinsamkeit befand, die sich plötzlich um die beiden Trauernden geschlossen hatte. Doch danach sagte er nichts mehr, sondern stand stumm auf und machte sich wieder auf den Weg in die Küche. Sie blickte nicht einmal auf, als er vorüberkam.
Danach redeten und redeten sie, Stunden wie es schien, während Bill Hegel weitere Abstecher in die Küche machte und seine Schritte bei jeder Rückkehr zum Sessel am Fenster zusehends unsicherer wurden. Barry vergaß immer wieder, daß Hegel im Zimmer war; es war, als würde der massige Mann von der Dunkelheit, die durch das Fenster kam, aufgesogen. Schließlich schlurfte er ein letztes Mal schlingernd hinaus, wobei er gegen die Sessel stieß und an den Türpfosten prallte, und kam nicht wieder zurück. Renee und Barry hatten die traurigen Verluste hinter sich gelassen, waren auf ihre Kindheit zu sprechen gekommen, stellten kleine Gemeinsamkeiten fest, erinnerten sich an Ereignisse, über die man schmunzeln konnte, und jetzt waren sie beide locker und entspannt, wie sie da auf dem kleinen harten Sofa saßen. Sein Arm hing über die Rückenlehne, während der ihre darauf ausgestreckt lag, so daß die schlanken Finger auf ihn zu zeigen schienen. Ihr Kopf ruhte auf ihrem Arm, und das schwarze Haar beschattete ihr Gesicht. Ein beinahe unwiderstehliches Verlangen überkam ihn, ihre Wangen,
Weitere Kostenlose Bücher