Werwelt 02 - Der Gefangene
ich die Kontrolle und befehle ihr, schleunigst davonzufahren.
Barry rührt sich wieder voller Ungeduld.
»Wohin fährt sie?«
Zum Hof, antworte ich, zu ihrem Hof.
»Gott verdammich«, brüllt er. »Wir sind jetzt raus. Wir fahren nach Norden. Ich muß zu Renee.«
Du mußt warten, Barry, erwidere ich und bemühe mich, seinen Zorn mit vernünftigen Argumenten zu beschwichtigen. Diese Frau ist gefährlich und wird immer eine Bedrohung für uns sein, wenn wir nichts dagegen tun. Wir müssen mit ihr reden.
Barry flucht und möchte heraus, versucht mit Gewalt, meine Gestalt zu sprengen. Ich fahre ihn barsch an. Hör auf, du Narr! Du willst zu der Frau, die du liebst. Ich will dich daran nicht hindern. Das entspricht ganz meinen Plänen, du Narr! Aber zuerst möchte ich Sicherheit, damit ich ein ruhiges Leben führen kann, ohne ständig nach einer Wahnsinnigen mit einer Büchse Ausschau halten zu müssen.
Einen Moment lang schweigt er. Dann stimmt er mir zu, und ich höre nichts mehr von ihm. Das Auto schwankt holpernd über die Schotterstraße und dann mit einem letzten harten Ruck auf den geteerten Highway, wo es nach rechts abbiegt. Nach etwa einer halben Stunde gewahre ich den Hof und das Haus. Die Konturen sind mir so vertraut wie das Gesicht eines nahen Verwandten. Nichts, so möchte es scheinen, hat sich im Lauf dieses einen Jahres verändert.
5
Ich folge der hochgewachsenen Frau zum Haus. Der dämmernde Morgen färbt den Himmel grau, und im Hühnerhaus erwachen die Hähne langsam aus dem Schlaf, schicken sich an, ihren morgendlichen Gruß in die Luft zu schmettern, der die Sonne herbeilocken wird. Die hintere Veranda, die kurze Treppe, der Doppelraum von Küche und Eßzimmer mit dem alten Eichentisch, der noch immer für zwei Menschen zu groß ist.
Tante Cat entzündet eine Lampe. Sie stellt sie auf den kleinen Küchentisch, und wir setzen uns. Zum ersten Mal sieht sie mich klar und deutlich in meiner natürlichen Gestalt, und ich gebe ihren Geist frei. Ein gewisses Maß an Kontrolle über ihre Handlungen allerdings bewahre ich mir, um zu verhindern, daß sie mit einem Küchenmesser auf mich losgeht oder etwas ähnlich Unüberlegtes tut. Während sie dasitzt und mich im Lampenschein betrachtet, kommen mir Gedanken an meine Kindheit in dieser Küche, an die kurze Kindheit, die ich unter der Obhut von Martin, dem guten Menschen, und Tante Cat genoß, die mich jetzt allen Ernstes töten wollte. Der runde geflochtene Teppich liegt immer noch vor dem Ofen, und die Küche atmet noch immer jene liebevolle Wärme und Harmonie, die mich damals auf diesen Hof, zu dieser Familie zogen. Obwohl Martin nicht mehr lebt, ist noch etwas von seinem Geist in diesen Räumen gegenwärtig, als bewahrte seine Frau selbst nach seinem Tod etwas von dem, was ihre Liebe zwischen ihnen geschaffen hat – eine dritte, sie beide umschließende Kraft, die ihr, vermute ich, niemals ganz verloren gehen wird.
»Warum bist du hierher gekommen?« fragt Tante Cat still, die Hände auf dem Tisch. Die Pose erinnert mich an jenen Tag vor langer Zeit, als Fremde Haß und dann Tod in diese Küche trugen. Ich weiß, daß sie nicht von dieser besonderen Nacht spricht, sondern wissen möchte, warum überhaupt.
Ich gehöre zu eurer Familie. Ihr habt mich aufgenommen.
»Du bist ein böser Geist.«
Ich hin nicht böse. Ich habe mich dafür entschieden, nicht böse zu sein. Dieses Sitzen auf einem Stuhl ist unbequem. In meiner natürlichen Gestalt bin ich dazu nicht geschaffen. Unfälle kann ich nicht verhindern.
»Wenn du nicht aufgetaucht wärst, dann hätte der Mann Martin nicht erschossen«, versetzt sie und hebt den Kopf ins Licht hinauf, als wollte sie die Tränen zurückhalten.
Ich betrachte ihr schlichtes Gesicht, die Augen, die Renee und Vaire von ihr haben und ihrem Gesicht Wärme und Klugheit geben, selbst jetzt in ihrer Trostlosigkeit und Verranntheit. In ihrem Haar ist jetzt viel mehr Grau, und sie hat es kurz geschnitten, trägt es nicht mehr wie früher mit einem Kopftuch hochgebunden. Sie sieht älter aus mit dem kurzen Haar.
Es tut mir leid. Ich habe Martin liebgehabt, erwidere ich und mache es mir bequemer, indem ich vom Stuhl rutsche und mich neben dem kalten Ofen niederlege. Damals war ich jung und hatte mich nur unvollkommen in der Gewalt.
»Du warst jung?«
Robert war jung. Und ich war auch jung.
»Was bist du?«
Nichts treibt die Frau, sich von der Stelle zu rühren. Sie ist gelähmt von Verzweiflung und tiefer
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