Werwelt 02 - Der Gefangene
denn nie schläft. Irgendwann muß sie ihre Wache aufgeben, und wenn sie es nicht tut, kann ich ja noch ihr Bewußtsein auslöschen, wenn es sein muß.
Der Abend schreitet fort. Im Haus ist das letzte Licht erloschen, und die Brechstange lehnt noch immer am Lastwagen, lang und schlank wie eine stählerne Lanze. Der Wachposten schlendert auf der Suche nach einem versteckten Örtchen, wo er Wasser lassen kann, am Rand des Gartens umher. Ich kann jetzt nicht länger warten. Die alte Frau ist vom Fenster verschwunden, unter den Bäumen des Hofs und draußen an den Hecken steigert sich das Quaken der Frösche und das Zirpen der Grillen zum schrillen Chor, der alle anderen Geräusche übertönt. Jetzt ist der Wächter wieder drinnen im Geräteschuppen und läßt sich auf dem alten Stuhl nieder, den man ihm hingestellt hat. Er wird sehr schnell einschlafen. Ich streife seinen Sinnen die Fesseln meines Willens über, und schon fällt er in tiefen Schlaf. Das Gewehr liegt quer über seinem Schoß, der Kopf hängt ihm auf die Brust.
Bäuchlings lege ich mich auf den Boden des Käfigs und strecke meinen gesunden Vorderlauf ganz vorsichtig durch den Schlitz, durch den mir die Alte immer den Futternapf schiebt. Sehr behutsam schließe ich meine Pfote um das obere Ende der Stange, hebe sie ein Stück an, so daß ich sie auch mit der anderen Pfote umfassen kann, schwenke sie horizontal, wechsle den Griff und ziehe sie durch den Schlitz in den Käfig. Lautlos lege ich sie nieder und mache mich daran, jede Schweißstelle am unteren Rand des Käfigs genau zu untersuchen. Aus nächster Nähe taste ich mit meinem Raumsinn die Dicke und Härte des Metalls ab, suche nach winzigen Öffnungen, wo die beiden Eisenstücke vielleicht nicht ganz miteinander verschmolzen sind. Ja, hier ist eine. Die daneben läßt sich vielleicht aufbrechen, vielleicht aber auch nicht. Die nächste Naht ist sehr schwach. Das Metall wölbt sich zwar in einem Kamm rund um das Ende der Stange, ist aber nicht mit dem Boden verbunden.
Ich muß zwei der Stangen aus ihrer Verankerung reißen und nach außen biegen, wenn das geht. Ich lausche, schicke meinen Raumsinn aus. Ich erspüre nichts als den schlafenden Wächter und die Hunde, die schnarchend unter dem Lastwagen liegen und von Kaninchen träumen. Ich nehme die Brechstange und schiebe sie schräg zwischen die stärkere Gitterstange und die schwächste, schiebe meine Pfoten bis zum äußersten Ende der Brechstange und hole tief Luft. Ich möchte einen schnellen, glatten Durchbruch, ohne eine Menge Lärm. Ich konzentriere mich ganz auf den Bewegungsablauf, der dazu nötig ist, hole noch einmal Atem, umfasse fest die Brechstange und reiße mit aller Kraft. Die Brechstange verbiegt sich wie weiches Blei, doch die Gitterstange des Käfigs hat sich schon mit einem lauten kurzen Knirschen aus dem Boden des Käfigs gelöst. Ein Kinderspiel! Bei der nächsten wird es nicht so leicht gehen, weil die Brechstange jetzt verbogen ist, und die Käfigstange fester sitzt. Ich schiebe die Brechstange so in die Ritze, daß ich gegen den Knick ziehe. Unbequem. Wenn sich die Stange in meiner Hand dreht, kann es passieren, das ich mir einen Muskel zerre. Ich klemme sie so fest wie möglich in die Ritze, ziehe diesmal langsam und vorsichtig, damit der Knick aus der Stange herausgedrückt wird, halte fest, mache eine Pause, um zu verschnaufen, reiße kräftig.
Wieder ein lautes Knirschen, und eine weitere Gitterstange ist aus ihrer Verankerung gebrochen. Doch es ist die verkehrte, die, die ich gebraucht habe, um Gegendruck auszuüben. Jetzt sind fast zwei Gitterstangen offen, aber sie befinden sich nicht nebeneinander. In mir tobt und wütet Barry völlig nutzlos. Ich gebiete ihm Schweigen, damit wir uns ganz auf unsere Aufgabe konzentrieren können. Mit meinem Raumsinn begutachte ich die nächste Gitterstange. Möglich. Wieder schiebe ich die Brechstange in den Zwischenraum. Das geht diesmal nicht ganz so glatt, weil sie jetzt zwei Knicke hat, den alten, der sich nicht herausdrücken ließ, und einen neuen vom zweiten Anlauf. Sie hat jetzt etwa S-Form. Ich ziehe versuchsweise. Vielleicht. Nun also das ganze noch einmal. Es knirscht und kracht, und eine weitere Stange löst sich aus dem Boden. Nun also habe ich zwei nebeneinander herausgerissen. Ich brauch’ sie nur noch nach oben zu biegen. So weit wie möglich ziehe ich mit der Brechstange, um dem Gitterstab schon einen leichten Aufwärtsschwung zu geben. Das Eisen ist weich,
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