Werwelt 02 - Der Gefangene
als einen teuflischen Geist zu sehen, damit es nicht grundlos geschehen wäre?
Sie nickt wieder, und jetzt weint sie. Kaum hörbar fallen die Tränen auf die weiße Emailleplatte des Tisches, so wie die letzten Tropfen eines sommerlichen Regenschauers sachte auf die sich wieder entfaltenden Blätter niederfallen, während der Himmel heller wird und das Rauschen des Regens in der Ferne erstirbt. Ich erkenne, daß ich ihr nichts mehr sagen kann, was ihr hilft.
Draußen kräht ein Hahn, sendet einen langgezogenen, vollendeten Ruf in den Morgen, der im aufblühenden Tag verklingt. Ein halbes Dutzend anderer folgen ihm, einige aus den Kehlen der jungen Hähne, die ihre Stimme noch nicht so vollendet beherrschen. Die Fenster erhellen sich.
Willst du mich nicht am Leben lassen? frage ich.
»Es hat ja alles keinen Sinn«, murmelt sie. »Martin ist tot. Mein Leben ist in zwei Teile zerschnitten. Ob es einen Grund dafür gibt oder nicht. Ob du ein teuflischer Geist bist oder nicht. Was spielt es schon für eine Rolle?«
Sie läßt ihren Kopf auf den Tisch sinken. Ein so bitterer Schmerz geht von ihr aus, daß es mich treibt, aufzustehen und sie anzusehen. Ich öffne meine Gefühle den ihren, und die Wellen von Schmerz und Traurigkeit streifen über mich hin wie ein eisiger Wind. Mich überkommt plötzlich das Verlangen, ihr etwas Gutes zu tun. Tief, tief in meinem Inneren spüre ich Roberts Sehnsucht. In einer Woge von Liebe und Schmerz ergießt sie sich aus seiner Vergessenheit und treibt mir heiße Tränen in die Augen. Vielleicht … Ich konzentriere mich auf die Empfindungen der Frau, versuche alles zu umschließen, was ihr Schmerz in sich birgt, weil ich ihr helfen möchte. Mit meiner Willenskraft bündle ich das alles, bis es in einem weißen Licht verschmilzt. Dann verwandle ich mich.
Mein Körper war schwer, alt, müde, fühlte sich zur Erde hingezogen. Ich hätte keine Freudensprünge mehr vollführen können und hätte auch nicht einen harten Ball auf eine Zielscheibe abfeuern können, wie ich das in meiner Jugend getan hatte. Doch danach verlangte mich auch nicht mehr. Mich verlangte nur noch danach, im Lampenschein am alten Küchentisch zu sitzen. Draußen dämmert langsam der frühe Tag, es ist Zeit zum Melken und an die Arbeit zu gehen. Ich kann das Heu riechen, das auf den Wiesen langsam austrocknet, schon krähen die Hähne, und bald vielleicht wird singend die erste Lerche über den Feldern aufsteigen. Doch dort am Tisch, den Kopf auf die Arme gesenkt, so müde, daß sie beinahe schläft, während ich hier stehe und auf sie hinunterblicke, sitzt die Frau, der immer mein ganzes Wünschen gegolten hat. Meine Frau, meine Liebe, meine Partnerin. Ich möchte ihr etwas sagen, doch ich halte es für besser, es jetzt noch nicht zu tun. Eine Weile noch möchte ich sie nur ansehen; vielleicht würde ich sie auch zu Tode erschrecken. Ich bin ein Geist, der für kurze Zeit noch einmal lebendig geworden ist, um etwas zu erledigen, ein Letztes für die Familie zu tun, vielleicht das beste, was ich überhaupt tun kann. Es wäre so beglückend, mich über sie zu beugen und leise ihren Nacken zu berühren.
Sie hat ihr Haar abgeschnitten. Dem alten Brauch gemäß. Sie hat gesagt, daß sie das tun würde, daran erinnere ich mich jetzt. Ich weiß auch noch, wann es war. Wir waren damals, als wir uns ausnahmsweise noch einen Urlaub leisten konnten, weil – wie hieß er doch gleich – und seine Frau hierher kamen und den Hof versorgten, oben in einem der engen Täler von Wisconsin. Wir lebten in einer Blockhütte. Es war eine hübsche Gegend. Eines Morgens im Bett sagte sie – ach, ich weiß noch, wie herrlich ihr langes schwarzes Haar war, wenn sie es über ihrem Arm hielt oder in dunklen Kaskaden über ihre schönen Brüste fließen ließ – eines Morgens sagte sie, wenn ich zuerst sterben sollte, würde sie ihr Haar abschneiden. Und ich erwiderte, das würde ich auch tun, wenn sie zuerst sterben sollte, und da lachte sie und erklärte, so etwas täten Männer nicht, doch in ihrem Mann läge ihr Frausein geborgen, und wenn ihr Mann nicht mehr wäre, dann würde ihre Welt zu Asche werden. Und danach zitierte sie irgendeinen Vers aus der Bibel.
Wie gern würde ich sie jetzt anrühren, aber ich wage es nicht. Cat, ich möchte dir sagen, daß ich dich bis zu meinem Tod und über meinen Tod hinaus geliebt habe, und daß diese Liebe immer weiterbesteht. Ich möchte dich daran erinnern, daß wir beide zusammen unsere
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