Werwelt 02 - Der Gefangene
Dann verwandle ich mich.
Der Morgen zeigt sich meinen befreiten Sinnen frisch und neu. Am liebsten würde ich durch den Mais galoppieren, spüren, wie die Blätter sich knisternd teilen, den Morgenwind auf meiner Zunge fühlen. Doch das Gefühl der Schwere, das den alten Mann belastet hat, steckt jetzt auch in mir; die Zeitspanne, die sein Leben war, die sich in dem Hof rund um mich herum, in der schlafenden Frau oben im Haus niedergeschlagen hat, scheint mich ganz zu umschließen. Es ist etwas Gewaltiges, einen anderen Menschen zu lieben, ein doppeltes Leben zu schaffen, so daß selbst nach dem Tod etwas bleibt, das nicht Alleinsein ist, sondern Gemeinschaft. Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, daß das wichtig für mich ist; daß es etwas ist, was ich wissen muß, obwohl ich nicht fragen kann, warum, weil ich die Frage nicht begreife.
Ich würde noch weiter darüber nachdenken, doch jetzt, wo wir frei sind, regt sich Barry in mir. Er denkt nicht an das indianische Amulett, sondern an die Frau, die er liebt, Renee, und an das Leben, in das er jetzt in seiner eigenen Realität eintreten muß. Ich stelle mich nicht gegen ihn, als er in mein Bewußtsein aufsteigt, da ich weiß, daß sein Streben das meine nur unterstützen kann – wenn auch nach den Gründen noch immer nicht gefragt werden kann. Ich weiche zurück, als der junge Mann ungestüm ins Dasein drängt.
Ich verwandle mich.
Am Ende der Einfahrt blieb Barry stehen, um noch einmal auf den Hof zurückzublicken, der sich ihm scharf umrissen vor der aufgehenden Sonne zeigt, dunkel das Haus, der Stall, der Silo, die Nebengebäude, die Bäume im Norden. Und plötzlich schoß in seinen jungen Geist ein Blitz der Erinnerung aus dem Gedächtnis jenes alten Mannes, wie er vor gewiß vierzig Jahren die Holunderbüsche gepflanzt hat. Deutlich und klar. Das Bild der Erinnerung verblich und löst sich auf.
Barry Golden schritt durch den sich rasch erwärmenden Julimorgen den Highway entlang. Er hinkte leicht, doch er schien glücklich und zufrieden. Nicht lange, da hielt ein ratternder alter Lastwagen und nahm ihn mit. Fort war er, auf dem Weg nach Norden.
Teil II
Dritte Person Plural
1
Juni 1937
Ich bin schwammig und träge geworden, schießt es mir durch den Kopf, während ich keuchend dem Karnickel hinterherjage, das in engem Bogen um einen Feigenkaktus flitzt. Ich habe Mühe, ihm auf den Fersen zu bleiben. In meiner Hast tappe ich mit meiner Vorderpfote direkt in die Stacheln. Ich spüre ihr schmerzhaftes Eindringen in die weichen Teile des Beins, aber ich habe keine Zeit, mich darum zu kümmern, denn das Kaninchen springt jetzt vom lehmigen Ufer in den arroyo, und ich kann mir doch ein verdammtes Karnickel nicht entwischen lassen. Da geht’s um den Stolz. Ich spüre es im ausgetrockneten Bachbett nach rechts davonhuschen, obwohl nicht einmal das Licht des Halbmonds es auf seiner verstohlenen Flucht verraten würde, selbst wenn ich nahe genug wäre, es zu sehen. Den Bauch dicht am Boden, gerade so weit von dem Kaninchen entfernt, daß es mich nicht sieht, folge ich ihm mit meinem Raumsinn. Der Geruchssinn dieser Geschöpfe ist nur sehr dürftig ausgebildet, aber ihr Gehör ist beinahe so scharf wie mein eigenes. Das Kaninchen hält an. Ich spüre seine Schwingungen, die sich an der Uferböschung des arroyo brechen und verzerrt zurückgeworfen werden. Das Tier hockt unter einem Büschel hoher Unkräuter. Noch einen Moment lang warte ich ab und lausche dem nahen, hastigen Atem des Kaninchens, während ich den meinen anhalte, ehe ich zum tödlichen Sprung ansetze. Als es seine Ohren nach rückwärts klappt, tauche ich mit einem Sprung in den arroyo hinunter und mit einem zweiten schwinge ich mich zum Versteck des Kaninchens. Es ist schnell, springt im selben Moment, als ich mich vom Ufer abstoße, doch ich breite weit meine Vorderläufe aus, täusche es, wie die Katze die Maus täuscht. Das Kaninchen macht kehrt, um davonzulaufen, wie ich das erwartet hatte, und ich lande direkt über ihm. Ein kurzer Kampf, und es gehört mir. Schlaff hängt der zermalmte Körper in meinen Krallen, wenn auch das Herz noch pocht, als ich meine Zähne in Leber und Bauch schlage.
Später hocke ich im mondbeschienenen Sand und putze mich, während ich den langen Hang hinunterblicke zu dem Städtchen im Tal des Rio Grande. Der Mond steht jetzt hoch über dem South Peak und erleuchtet die Mesa mit einem milden Glanz, den ich im mittleren Westen nie gesehen habe. Wenn diese
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