Werwelt 03 - Der Nachkomme
würde in dieser kleinen Kammer in einer fremden Stadt sterben, getäuscht von irgendeinem übernatürlichen Wesen, das wahrscheinlich sowieso nur eine Halluzination war. Doch dann fielen ihm die hypnotischen Worte des Tieres wieder ein: »Du darfst nicht verzweifeln, denn das ist dein Tod.«
Bo setzte sich auf und begann, die Litanei herunterz u leiern, um gegen die Verzweiflung anzukämpfen.
»Das Leben kommt zuerst. Lerne zu leben. Lebe ewig.« Die Worte waren nur Geräusche, doch er spürte ein gewi s ses Nachlassen des Schmerzes, wenn er sich stark genug auf sie konzentrierte. Er mußte sie wohl an die zehn bis fünfzehn Minuten vor sich hingesagt haben, bis sie nur noch plätscherten wie Wellen, die sachte an einen Strand schlugen. Während er sich konzentrierte, lockerte sich sein keuchender Atem und ging tiefer, und er fühlte, wie der Schmerz sich entfernte. Er war so schlimm wie je, aber er war nicht so nahe. Jetzt machte er ihm nicht mehr so viel aus. Unablässig sagte er die Worte vor sich hin, bis seine Kehle ganz ausgetrocknet war, und dann sagte er sie weiter in seinem Geist. Oder besser, er ließ sie in seinem Geist weitergehen, denn sie bewegten sich jetzt auf einer Art kreisrunden Bahn, in musikalischem Rhythmus beinahe, umschwebten ihn, schlugen einen Kreis um ihn, einen m a gischen Kreis, der den Schmerz fernhielt, während er leicht atmend in seiner Mitte saß. An diesem Tag des Erntedan k festes hockte George Beaumont, von seinen Freunden Bo genannt, aber nicht von seiner Frau, auf dem durchgeleg e nen Bett mit seiner Flickendecke, die aus den Lebensresten alter Damen in steifen kalten Wohnzimmern gemacht war. Er litt an einem Krebs, der bereits Metastasen gebildet ha t te und sich bei einer Operation als unheilbar erwiesen hä t te. Der Chirurg hätte von der Öffnung aufgeblickt, sein verhüllter Blick hätte den von Georges Arzt, Randolph Goodnaugh aus Chicago, gesucht, und er hätte kopfschü t telnd mit einem behandschuhten Finger auf die jetzt freig e legte Höhle des Unterleibs gewiesen. Dr. Goodnaugh – und zwei Operationsschwestern und sechs Assistenzärzte, die der Operation zusahen – hätten auf die weißen und grauen Knötchen und Fädchen wildwuchernden Gewebes hinu n tergeblickt, das den Leib des Patienten füllte. Dr. Goo d naugh hätte die Beklemmung verspürt, die er stets verspü r te, wenn der Tod neben ihm stand und seinen knochigen Finger hob. Er hätte den in Gaze verhüllten Kopf geschü t telt, seinen Kollegen und Freund aus müden Augen ang e sehen – er war immerhin elf Jahre älter als der Chirurg – und sich dann abgewandt. Der Chirurg hätte den Schnitt vernäht, wäre vielleicht ein wenig weniger gewissenhaft gewesen als er hätte sein können, hätte vielleicht sogar e i nem der Assistenzärzte erlaubt, die Naht zu machen, weil hier ja sowieso bald der Bestattungsunternehmer Hand a n legen würde. Und die medizinische Wissenschaft hätte in ihrem ewigen Kampf mit dem Tod eine weitere Runde ve r loren.
George Beaumont hockte auf dem Bett und murmelte eine Kette von Wörtern vor sich hin, während rasender Schmerz in seinem Inneren wütete und unaufhörlich auf ihn einbrüllte, und es gelang ihm, eine Zeitlang nichts zu hören.
Dann fühlte sich Bo plötzlich frei von Schmerz. Mit e i ner Leichtigkeit, die bei einem Mann mittleren Alters, übergewichtig und grobknochig, unvorstellbar war, stand er in der Mitte dieses magischen Kreises von Worten auf. Er stand auf und schwebte wie ein freigesetzter Ballon zur Decke empor, um von dort auf sich selbst hinunterzubl i cken, wie er auf der alten Flickendecke saß und unablässig dieselben Worte vor sich hin murmelte. Bo betrachtete den Mann auf dem Bett eine ganze Weile, ehe ihm klar wurde, daß er nicht nur aufgestanden war, sondern aufwärts g e stiegen war und nun unter der Decke des kleinen Raumes schwebte. Ganz in der Nähe hörte er ein leises Summen, so als befände er sich neben einem sommerlichen Bienenkorb; das Summen wurde tiefer, als es sich ihm oder er sich ihm näherte. Die Gestalt auf dem Bett wurde kleiner, wich in weitere Ferne, während der Raum sich nach oben verlä n gerte wie ein Aufzug, ein Aufzug, der in den Himmel h i naufstieg und Bo mit sich nahm, während er zusah, wie die Gestalt auf dem Bett kleiner und kleiner wurde. Das Su m men dröhnte jetzt um ihn herum wie das Tosen eines Wa s serfalls. Plötzlich kam ein Ruck, als wäre er mit einem sich in Bewegung befindlichen Gefährt
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