Werwelt 03 - Der Nachkomme
Du lieber Gott! Er lag praktisch auf dem Sterbebett und dachte daran, es mit seiner Pflegerin zu treiben!
Überrascht blickte er auf, als sie sich mit einem Teller in der Hand neben ihn setzte. Einen Moment lang sah er aus wie ein schuldbewußtes Kind.
»Die Suppe ist sehr gut«, bemerkte sie. Sie fing den Blick auf seinem Gesicht auf, registrierte ihn, um später darüber nachdenken zu können. »Es sind Linsen drin und andere heilsame Botschaften für deinen Körper.«
»Und wie üblich ist es nicht viel.«
»Genug für heute.«
Er aß die Suppe durchaus bereitwillig, dankbar, daß der Schmerz verflogen war und er sie genießen konnte. Die Suppe war warm, aber nicht heiß, und sie schmeckte wie Sojabohnen und brauchte Salz, aber er wußte, daß er kein Salz essen durfte. Insgesamt war es nicht mehr als der I n halt einer Tasse, und der war bald aufgegessen.
»Es muß eine telegrafische Nachricht gewesen sein«, bemerkte Lilly. »Das ging ja Ruckzuck.«
»Du brauchst mich nicht wie einen kleinen Jungen zu behandeln«, versetzte Bo und wischte sich den Mund mit seinem Taschentuch. – Als die Frau schwieg, meinte er, etwas anderes sagen zu müssen.
»Ich fühle mich besser heute Nachmittag , jetzt, meine ich.« Er hatte Angst, als er es sagte, Angst, daß der Schmerz von neuem beginnen würde. Er wußte, daß er wieder einsetzen würde, daß dies nur eine kurze Frist war, wo die Welt wieder wirklich schien und wo es anderes gab als sein schmerzzerfressenes, sterbendes Inneres.
»Es geht dir jeden Tag ein bißchen besser«, sagte Lilly ruhig. »Aber« – sie schwieg einen Moment und blickte ihn mit so unverhohlener Teilnahme an, daß er beinahe den Arm ausgestreckt hätte, sie zu berühren – »du hast noch einen langen Weg vor dir.«
»Ich möchte jetzt nur wissen, ob du glaubst, daß ich es schaffe.«
»Ich bin überzeugt davon. Aber du mußt alles durchm a chen, wenn du danach richtig leben willst«, erklärte sie, und später sollte er sich des Mitgefühls auf ihrem Gesicht erinnern, als sie diese Worte sagte, später, wenn der Schmerz so heftig war, daß er überzeugt war, sterben zu müssen.
»In solchen Momenten, ich meine, in Momenten wie jetzt, wenn ich keine Schmerzen habe, kann ich beinahe daran glauben«, sagte er und hörte selbst in seiner Stimme den Unterton kindlicher Angst.
Das war der Grund, weshalb sie ihn wie ein Kind b e handelte. Er fühlte sich wie ein Kind, wie ein armes kleines Kind, das Schmerzen hatte und bei Mama Trost und He i lung suchte. Er beschloß, diesen Ton sein zu lassen.
»Erzähl mir was von dir, Lilly.« Es war das erste Mal, daß er ihren Namen gesagt hatte, und er klang ihm fremd und seltsam in den Ohren. »Was tust du, um auf der So n nenseite des Lebens zu bleiben?«
»Ach, ich bin ein ganz simples Mädchen«, erwiderte sie leichthin, glücklich, daß die Angst aus seiner Stimme g e wichen war. »Ich fahre jeden Morgen mit der Straßenbahn in die Stadt zur Arbeit. Ich arbeite in einer Druckerei.«
»Du hast doch sicher Familie«, meinte er und versuchte, sich zu erinnern, ob sie einen Ehering trug. Er hatte es nicht bemerkt, und jetzt hielt sie die Hände im Schoß, und er konnte i h ren Ringfinger nicht sehen.
»Ich wohne bei meinen Leuten«, sagte sie und brach ab, als gäbe es da noch etwas, was sie lieber nicht sagen wol l te.
»Bei deinen Eltern, Vater und Mutter?«
»Für einen kranken Mann bist du sehr neugierig.«
»Ich wollte nicht persönlich werden. Ich hab ’ kein Recht, neugierig zu sein.«
»Das macht nichts, Bo. Ich nenne sie meine Leute. Ta t sächlich sind es sehr gute Freunde von mir, Dan und Polly Carrothers. Meine Eltern sind tot.«
»Aber du hast doch sicher einen Freund.«
»Ach ja, hin und wieder geht schon mal ein Mann mit mir aus. Ich bin kein Mauerblümchen.«
Er hätte gern weiter gefragt, gern mehr über ihre Freu n de gewußt, doch er verbot es sich. Herrgott noch mal, er benahm sich ja wie einer, der höchstens halb so alt war wie er. Wollte er denn gar nicht an Mary Louise denken, die allein in Whitethorn das Haus hütete und die Rechnungen bezahlte und sich redlich bemühte, mit dem auszukommen, was sie hatte, obwohl sie keine Ahnung hatte, was eigen t lich vorging, wo er überhaupt war. Er spürte einen Anflug von Reue und Zerknirschung, als er an seine Frau dachte. Sie hatte sich immer so bemüht, und … Der Tod war auch für sie schwer gewesen, schwerer noch, da sie keine Kinder mehr bekommen konnte. Er
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