Wesen der Nacht
schweifen. Da sah ich eine schemenhafte Gestalt hinter dem Haus verschwinden. Ich folgte dem Schatten um die Ecke und sah, wie er denselben Weg einschlug, den ich gestern zum Tor genommen hatte. Er bewegte sich schnell, schwebte über das Gras hinweg, als hinge er an einer Schnur, die von einem unsichtbaren Wesen gezogen wurde.
Die Luft war kühl und feucht, die Grashalme streiften an meinen Hosenbeinen entlang und schon bald war meine Jeans nass vom Tau. Eine Zeit lang blieb ich auf Abstand, aus Angst, der Schatten könne jeden Moment herumfahren und sich auf mich stürzen. Nach einer Weile jedoch begriff ich, dass er tatsächlich ganz von einer fremden Macht gesteuert wurde– der Anziehung des Tors. Als er gestern vor dem Haus aufgetaucht war, hatte er den Kopf gedreht, immer wieder innegehalten und sich umgesehen. Jetzt wirkte er steif. Er drehte sich nicht um und ließ sich durch nichts von seinem Weg abbringen. Wenn sich ihm ein Hindernis in den Weg stellte, glitt er einfach hindurch.
Dereks Plan mochte dürftig gewesen sein, aber er hatte mir immerhin gezeigt, was ich tun musste. Als der Wasserfall in Sicht kam, versicherte ich mich, dass mein Handy in meiner Hosentasche steckte. Nachdem sich der Schatten die ganze Zeit kein einziges Mal nach mir umgedreht oder auch nur ein winziges Stück zur Seite geblickt hatte, schloss ich näher auf. Als die Kreatur schließlich den kleinen Vorsprung erreichte, der hinter den Wasserfall führte, trennten mich keine zehn Meter mehr von ihr.
Ich ließ das Wesen hinter den Wasserschleier treten, ehe ich ihm über den Vorsprung folgte. Wassernebel benetzte meine Haut und ließ mich frösteln. Mit jedem Schritt, den ich mich der Höhle näherte, wurde es dunkler. Ich zog das Handy aus meiner Tasche, bereit, das Display anzuschalten, und trat hinter den Wasservorhang.
Und blieb mit offenem Mund stehen.
Silbernes Licht erfüllte die Höhle bis in den letzten Winkel. Auf der gegenüberliegenden Seite, dort, wo ich gestern das Tor zu spüren geglaubt hatte, hatte sich ein Wirbel von etwa zwei Meter Durchmesser geöffnet. Ein gleißender Ring umrahmte den Strudel, so hell, dass sein silbernes Licht die Höhle bis in den letzten Winkel erfüllte.
Der Schatten hatte den Strudel erreicht und verlor an Kontur. Die Gestalt zerfaserte mehr und mehr und löste sich in den dunklen Nebel auf, der gestern unter meiner Tür hindurch gesickert war. Dieses Mal jedoch war kein anderes Geräusch zu vernehmen als das Donnern des Wasserfalls. Die ersten Ausläufer des Nebels vermischten sich mit dem Wirbel des Tors und wurden darin aufgesogen.
Mir blieb nicht mehr viel Zeit.
Ich riss meinen Blick los und suchte die Umgebung des Tors ab. Da entdeckte ich sie– die Kiste! Ohne weiter auf das Tor zu achten, lief ich los. Der Schatten war nun bereits zur Hälfte verschwunden, mir blieb nicht mehr viel Zeit! Ich drückte gegen die Kiste. Sie war schwer, weit schwerer, als ich angenommen hatte, und kam nur langsam und ruckend in Bewegung. Keuchend presste ich meine Hände dagegen und schob. Als ich nicht mehr weiterkam, drehte ich mich herum, stemmte mich mit dem Rücken dagegen und setzte all meine Kraft ein.
Der letzte Nebelschleier vermischte sich mit dem Wirbel und verschwand. Kaum war der Schatten fort, schloss sich das Tor mit einem Lichtblitz, so blendend hell, dass ich sekundenlang nur noch grellweiße Punkte vor meinen Augen sah. Dann war es finster in der Höhle. Das Tor war fort. Aber in meinem Rücken spürte ich die kantigen Umrisse der Kiste. Erleichtert lehnte ich mich dagegen und wartete darauf, wieder zu Atem zu kommen.
Schließlich schaltete ich das Handy ein und richtete das leuchtende Display auf die Box. Sie maß etwa eineinhalb Meter an jeder Kante, verdammt klein, wenn wirklich ein menschenähnliches Wesen darin stecken sollte. Die Oberfläche war überraschend unspektakulär. Ich hatte mit aufwendigen Beschlägen oder wenigstens irgendwelchen Ornamenten gerechnet, stattdessen sah ich nur glattes, dunkles Holz. Das einzig Auffällige waren die acht silbernen Riegel, die den Deckel festhielten und deren Enden wie Klauen geformt waren, die sich an der Kiste festkrallten. Ein Geräusch drang aus dem Inneren, ich glaubte Cales Stimme zu erkennen, doch das Donnern des Wasserfalls übertönte alles.
Das Handy in der einen Hand, legte ich mit der anderen die Riegel zurück und schob den Deckel zur Seite, bis er zu Boden fiel. Eine Gestalt hockte zusammengekauert in der Kiste
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