Wesen der Nacht
langem Schweigen endlich zurückkehrte, war ich glücklich, ihn wiederzuhaben. So glücklich, dass ich sofort nach unten in die Küche lief.
»M om! Er ist wieder da! Er ist wieder da!«
Nicht einmal eine Stunde später verfrachtete mich Mom in den Wagen und brachte mich nach Inverness ins Krankenhaus. In endlosen Gesprächen versuchte ich den Ärzten dort klarzumachen, dass die Stimme existierte, dass ich sie mir nicht einbildete. Sie stellten mir Fragen, machten sich Notizen und sprachen mit meiner Mutter in Worten, die ich als Fünfjährige nicht verstanden hatte, die ich nicht einmal heute verstehen wollte. Die Diagnose lautete Schizophrenie.
Ich hatte mich geweigert, ihnen zu glauben. Mich geweigert, mich schon wieder von meinem Freund zu trennen, kaum dass ich ihn zurückgewonnen hatte. Das hatte mir vier Wochen in der Kinderpsychiatrie eingebracht. Meine Erinnerung an diese Zeit war mittlerweile verschwommen, was wohl zum einen daran lag, dass ich noch so klein gewesen war, und zum anderen an den Medikamenten, mit denen sie mich damals vollgestopft hatten.
Nach meiner Entlassung kehrten wir nicht nach Duirinish zurück. Stattdessen hatte Mom Trick und mich nach London gebracht, wo wir in die Wohnung neben Pepper gezogen waren. Weitere Krankenhausaufenthalte waren mir erspart geblieben, nicht jedoch eine jahrelange, wöchentliche Gesprächstherapie und die Einnahme von Psychopharmaka, die mir helfen sollten, mit meiner Krankheit zurechtzukommen.
Monatelang war die Stimme fort gewesen. Erst später, als ich die Medikamentendosis reduzieren und die Tabletten schließlich ganz absetzen durfte, konnte ich sie wieder hören. Aus Angst, noch einmal zurück ins Krankenhaus zu müssen, ignorierte ich sie. Anfangs versuchte er mich dazu zu bringen, ihm zu antworten. Als ich auf sein Drängen aber nicht reagierte, war die Stimme schließlich verstummt.
Bis gestern Abend.
Je älter ich geworden war, desto mehr hatte ich verstanden, was mir damals passiert war. Die Stimme in meinem Kopf hatte nie existiert, ich war einfach krank gewesen. Und diese Krankheit war durch Medikamente geheilt worden. Als mir bewusst wurde, was es bedeutete, die Stimme wieder zu hören, lief mir ein Schauder über den Rücken. Fröstelnd zog ich die Decke fester um mich.
War das ein neuer Schub? Ich hatte mir vorgenommen, nie wieder in einer Anstalt zu landen. Nie wieder wollte ich mich mit Medikamenten vollpumpen und ruhigstellen lassen. Ich würde einfach so tun, als hätte ich die Stimme nicht gehört. Vielleicht hatte ich ja Glück und es war wirklich nur Einbildung gewesen. Ein Traum. Ich war eingeschlafen, ohne es gemerkt zu haben. Schon früher hatte ich Träume gehabt, die mir so real vorgekommen waren wie das echte Leben.
Eine Weile saß ich ruhig da und lauschte in mich hinein, wartete darauf, die vertraute Stimme wieder zu hören. Als das nicht geschah, schälte ich mich aus meiner Decke und stand auf. Solange die Stimme stumm blieb, war alles in Ordnung.
5
Ich war so durch den Wind, dass mir selbst die einfachsten Handgriffe schwerfielen. Entsprechend lang dauerte es, bis ich geduscht, mich geschminkt und trotz der Ordnung im Schrank alle Teile meiner Schuluniform zusammengesucht hatte. Als ich nach unten kam, war Mom bereits auf dem Weg zur Tür.
»D u bist spät dran, Liebes«, begrüßte sie mich. »I ch auch. Ich muss zur Arbeit. Redaktionskonferenz.« Sie wedelte mit dem Schnellhefter in ihrer Hand, drückte mir im Vorbeilaufen einen Kuss auf die Wange und war aus dem Haus, bevor ich auch nur Guten Morgen sagen oder sie darum bitten konnte, mich zur Schule zu fahren. Ich ließ die Hand sinken, die ich zu einem halbherzigen Winken erhoben hatte, und ging in die Küche. Zwei Tassen Kaffee später fühlte ich mich wieder halbwegs wie ein Mensch und war bereit, mich der Welt da draußen zu stellen.
Die Sache mit der Stimme lenkte mich immerhin so weit ab, dass ich es schaffte, an der Stelle des Überfalls vorbeizugehen, ohne in Panik zu geraten. Mit schnellen Schritten und pochendem Herzen zwar, aber immerhin. Allerdings reichte mein Mut nicht aus, mich nach meinem Armband umzusehen. Dazu hatte ich ohnehin keine Zeit mehr. Ich würde es nach der Schule suchen.
Diesmal freute ich mich geradezu auf das Gedränge in der U-Bahn . Die vielen Menschen gaben mir ein Gefühl von Sicherheit. Vor so vielen Leuten würde wohl niemand einen Entführungsversuch wagen. Abgesehen davon war es hier so laut, dass es mir schwerfiel, die
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