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Wesen der Nacht

Wesen der Nacht

Titel: Wesen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
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Lautsprecheransagen zu verstehen. Ganz zu schweigen von einer fremden Stimme, von der ich fürchtete, dass sie sich erneut in meinen Kopf einschleichen könnte.
    Und gegen die Übelkeit hatte ich ein Mittel: Eine Hand an der Haltestange, die andere in der Tasche meines Blazers um Mr Millers Hasenpfote geklammert, überstand ich die U-Bahnfahrt ohne Probleme. In der Schule angekommen, hielt ich sofort nach Pepper Ausschau. Ich fand sie bei ihrem Schließfach, das nur drei Schranktüren von meinem eigenen entfernt war.
    »H ey, Serena, wie– meine Güte, du siehst ja grauenhaft aus!«
    Das klang nicht gerade nett. Aber ich kannte Pepper gut genug, um die Sorge und die unausgesprochene Frage, was passiert war, aus ihren Worten herauszuhören. »D as Kompliment kann ich zurückgeben. Trägst du deine Ringe jetzt unter den Augen statt an den Fingern?«
    Ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus, wie bei einer Katze, die gerade eine Maus gefangen hatte. »I ch hab die ganze Nacht durch gelesen. Sergejs neues Abenteuer war einfach nur unglaublich und genial!« Sie seufzte sehnsüchtig. »D er Kerl ist zum Knutschen. Ich muss dir heute Nachmittag alles davon erzählen. Was ist deine Entschuldigung?«
    »I ch wurde gestern überfallen«, sagte ich so leise, dass nur sie es hören konnte.
    »W as, überfallen?! Und da lässt du mich über Sergej reden! Wer, wo, wie, warum? Erzähl schon! Bist du in Ordnung?«
    Es läutete.
    »I n der Pause.«
    »K ommt nicht infrage. Ich muss das sofort wissen.« Sie warf einen Blick auf den Strom an Schülerinnen und Schülern, die an uns vorbei zu ihren Klassenzimmern eilten. »L ass uns von hier verschwinden.«
    »M om bringt mich um, wenn ich schwänze.«
    »S ie soll dir eine Entschuldigung schreiben. Posttraumatisches Irgendwas oder so.«
    Ich schüttelte den Kopf. »S ie weiß nichts davon.«
    Peppers Augen wurden groß, ein Anblick, der so theatralisch war, dass ich mir nur mühsam ein Grinsen verkneifen konnte. Dann nickte sie plötzlich ernst. »D u hast Angst, dass sie wieder zur Tentakelmom mutiert.«
    Pepper hatte den Begriff Tentakelmom vor einigen Jahren erfunden, als sie Moms übertriebenen Beschützerinstinkt zum ersten Mal mitbekommen hatte. Ein Wesen mit unzähligen Tentakeln, von denen jedes einzelne nach mir zu greifen und mich an sich zu ziehen versuchte. Es war kein sonderlich netter Vergleich, aber leider traf er es damals ziemlich genau.
    Das zweite Läuten kündigte an, dass wir noch eine Minute hatten. Auf der Stelle rannten wir los. Wir erreichten das Klassenzimmer zeitgleich mit dem letzten Läuten und glitten auf unsere Plätze. Während vorne Miss Sorensen ein paar Geschichtsdaten auf das Whiteboard schrieb, schob Pepper mir einen Zettel rüber. Bist du in Ordnung?
    Nichts verletzt, nur Riesenschreck, kritzelte ich auf das Papier und schob es zurück zu ihr. Sie überflog meine Worte und wischte sich dann in einer dramatischen Geste, die ihre Erleichterung zeigen sollte, über die Stirn.
    Bis zur Pause waren wir beide so weit, dass wir beinahe platzten. Pepper vor Neugier und ich, weil ich endlich jemandem von gestern erzählen musste. Wir warfen unsere Geschichtsbücher ins Schließfach, vertrösteten unsere Freunde mit einem kurzen Winken und zogen uns in eine stille Ecke hinter den Sporthallen zurück. Obwohl wir allein waren, erzählte ich meine Geschichte so schnell, als könnte jeden Moment jemand um die Ecke kommen und uns unterbrechen– oder mich verschleppen.
    »D er Typ mit dem Handy?«, platzte Pepper heraus, als ich meine Verfolger beschrieb. »O h Mann, ist denn auf die süßen Kerle überhaupt kein Verlass mehr?« Sie wischte den Gedanken mit einer Geste fort, bevor ich etwas erwidern konnte. »W ie bist du entkommen? Haben die Bullen die Kerle einkassiert?«
    »P lötzlich war da ein Hund.« Ich beschrieb ihr, was ich gehört und wie Mr Miller mich gerettet hatte. »M ir war so kotzübel, das glaubst du nicht.«
    »M achst du Witze? An deiner Stelle wäre ich wahrscheinlich glatt umgekippt! Mensch, Süße, das ist ja schrecklich.« Sie machte einen Schritt auf mich zu und zog mich in ihre Arme. Ihre Nähe fühlte sich so tröstlich an, dass ich nicht anders konnte, als mich an ihr festzuklammern. Ich zitterte, und wenn sie mich nicht gehalten hätte, wäre ich zusammengeklappt. Pepper war mein Rettungsring.
    Eine Weile standen wir einfach so da und ich wünschte mir, ich könnte ihr auch von der Stimme erzählen, von der ich immer noch

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