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Wesen der Nacht

Wesen der Nacht

Titel: Wesen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
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die Kerle ins Haus eingedrungen waren. Die Anlage war mit Überwachungskameras ausgestattet, an der Pforte saß rund um die Uhr ein Wachmann. Und hätte sich jemand tatsächlich Zutritt zum Gelände verschaffen können, wäre es immer noch schwierig gewesen, unbemerkt in mein Zimmer zu gelangen. Vielleicht ein besonders geschickter… Ich schüttelte den Kopf. Hier ging es nicht um einen Einbrecher oder Entführer. Es gab eine ganz andere Erklärung– eine, die mir viel mehr Angst machte.
    Hallo, Prinzessin. Die beiden Worte hallten wie ein nicht enden wollendes Echo in meinen Gedanken wider. Ich kannte diese Stimme. Sie war der Grund, warum Mom mich damals aus Schottland fortgebracht hatte.
    Vorsichtig tastete ich nach der Stimme, lauschte in die Stille, ohne diese oder andere Worte zu vernehmen. Minutenlang stand ich regungslos da und wartete darauf, dass sie zurückkehrte, doch das einzig vernehmbare Geräusch war das Rauschen des Windes in den Bäumen, das von draußen an mein Ohr drang.
    Ich schloss die Badezimmertür wieder, ging zu meinem Bett und ließ mich schwer auf die Matratze sinken. Es war nur Einbildung gewesen, nichts weiter. Nach allem, was mir heute passiert war, hatte ich allen Grund, durcheinander zu sein. Vermutlich war ich eingeschlafen, ohne es zu merken, und hatte die Worte nur geträumt. So musste es gewesen sein!
    Ich stellte die Nachttischlampe wieder auf und griff nach der Wasserflasche neben meinem Bett. Mit großen Schlucken spülte ich den Geschmack der Angst herunter. Dann kroch ich wieder unter die Decke. Mir wurde schnell klar, dass ich jetzt nicht einschlafen konnte, also schaltete ich den Fernseher ein. Während ich durch das Nachtprogramm zappte, blätterte ich in einem Magazin, das ich aus einer Kiste unter meinem Bett gezogen hatte. Ich tat alles, um mich abzulenken, trotzdem kehrten meine Gedanken immer wieder zu der Stimme zurück. Was, wenn alles wieder von vorne losging?
    Mein Puls schlug schneller. Unwillkürlich ließ ich meinen Blick durch das Zimmer gleiten, suchte nach Unordnung, die ich beseitigen konnte. Schon stand ich auf, um die Stapel auf meinem Schreibtisch umzuschichten und zusammenzuschieben, entfernte ein paar imaginäre Staubflusen vom Fernseher und schob den Riemen meiner Tasche ordentlich zwischen Tasche und den Fuß des Schreibtischs. Gerade war ich im Begriff ins Bad zu gehen, um zu sehen, ob das Waschbecken sauber genug war, als mir bewusst wurde, dass ich in alte Muster verfiel. Abrupt machte ich kehrt und zwang mich dazu, mich wieder ins Bett zu legen. Ich hatte das überwunden. Ich hatte alles im Griff. Es war nicht mehr wie damals. Damals, als diese Stimme…
    Nein, ich würde das nicht noch einmal mitmachen! So weit würde ich es nicht kommen lassen. Weder den Ordnungszwang noch das, was mich überhaupt erst dazu gebracht hatte. In einem Akt stummer Rebellion stieß ich mit dem Fuß so fest gegen den Schreibtisch, dass die ordentlich aufgereihten Stifte sich auf der Tischplatte verteilten.
    Irgendwann war ich geistig und körperlich so erschöpft, dass ich in einen unruhigen, von wirren Träumen erfüllten Schlaf glitt. Ich war zurück in dem kahlen Krankenzimmer mit den sterilen weißen Wänden und dem kalten grauen Linoleumboden. Es war so lang her, doch der Anblick war noch immer erschreckend vertraut. Der Geruch von Desinfektionsmittel und scharfem Reinigungsmittel mischte sich mit dem Aroma von verkochtem Essen. Ich hasste die Gerüche und Geräusche, hasste die Schreie und das schrille Gelächter, die vom Gang in mein Zimmer drangen, ebenso wie das Quietschen der Schuhsohlen, wenn die Schwestern kamen, um mir irgendwelche Nadeln in die Arme zu stechen. Noch mehr hasste ich die Helligkeit. Die Neonleuchten an der Decke über mir brannten Tag und Nacht. Das Licht tat in den Augen weh und das stete Brummen der Röhren schien von Tag zu Tag lauter zu werden.
    Niemals zuvor hatte ich mich so allein gefühlt. Dad war Hunderte von Kilometern entfernt und bei Mom, die mich regelmäßig besuchen kam, fühlte sich die Distanz mindestens genauso groß an. Die Sorge in ihrem Blick war schwerer zu ertragen als all die Untersuchungen, die ich seit meiner Einlieferung über mich ergehen lassen musste. Am meisten jedoch fehlte mir mein bester Freund. Der Freund, von dem jeder behauptete, dass es ihn nicht gab.
    Jedes Mal wenn sie mir sagten, dass er meiner Einbildung entsprungen war und es ihn niemals gegeben hatte, begann ich zu schreien und um mich zu

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