Wesen der Nacht
schlagen. Ich wand mich und versuchte mich dem Griff der Schwestern und Pfleger selbst dann noch zu entziehen, als das Ratschen der Lederriemen längst verkündete, dass der Kampf verloren war. Ich warf mich hin und her, versuchte mich zu befreien, die Hände und die Fixierungen abzuschütteln, die mich hielten. Als alles nichts half, begann ich zu schreien. Medikamente flossen durch einen Tropf in meine Venen, Tabletten wurden meine Kehle hinuntergepresst. Nebel überschwemmte mein Bewusstsein, sperrte meine Umwelt aus und ließ nichts anderes mehr zu mir durchdringen als diese Stimme, die alles andere überlagerte und mich noch immer zu erreichen versuchte.
Wo bist du? Warum antwortest du nicht?
Mit einem unterdrückten Schrei schreckte ich aus dem Schlaf. Im ersten Moment glaubte ich, noch immer fixiert zu sein, so wie ich es im Traum gewesen war, doch es war nur meine Bettdecke, in der ich mich verheddert hatte. Ich strampelte mich frei und setzte mich auf. Die Zeitschrift, in der ich geblättert hatte, bevor ich eingeschlafen war, geriet ins Rutschen und fiel auf den Boden. Über den Bildschirm flimmerte das Frühstücksfernsehen und draußen wurde es gerade hell. Ich knipste die Nachttischlampe aus und schaltete den Fernseher ab. Gedankenverloren rieb ich mir die Handgelenke, als hätte eben erst jemand die Fixierungen gelöst.
Ich hasste die Erinnerung an diese vier Wochen, die ich in Inverness in der Psychiatrie verbracht hatte. Eine Erinnerung, die im Lauf der Zeit ebenso verblasst war wie die Albträume, die mir mein Aufenthalt dort noch lange beschert hatte. Für gewöhnlich dachte ich nur noch sehr selten daran, und geträumt hatte ich schon seit Jahren nicht mehr davon. Die Stimme von letzter Nacht hatte alles zurückgebracht. Prinzessin. So hatte mich der Junge genannt, den es nie gegeben hatte.
Ich war fünf Jahre alt gewesen und Mom, Trick und ich hatten zusammen mit Dad in den Highlands gelebt. Mein bester Freund war ein Junge gewesen, den ich noch nie zu Gesicht bekommen, mit dem ich mich aber wochenlang unterhalten hatte. Er sagte mir, er würde an einem anderen Ort leben, einem Ort, von dem aus er nicht zu mir kommen könnte, weshalb wir nicht miteinander spielen konnten, sondern uns auf Worte beschränken mussten. Stundenlang hatten wir uns Geschichten erzählt, einander beschrieben, was wir gerade machten, hörten oder sahen. Wir waren Freunde geworden, ohne uns jemals begegnet zu sein. Ich war verrückt nach dieser weichen, warmen Stimme gewesen, die mich zum Lachen bringen, mich aber auch beruhigen konnte, wenn ich aufgeregt war. Diese Stimme, der Junge dahinter, hatte mir damals alles bedeutet. Sie war mir so wichtig gewesen, dass ich mich nie gefragt hatte, warum nur ich sie hören konnte. Mom und Dad gegenüber hatte ich über den Jungen gesprochen wie über einen real existierenden Menschen.
Einmal hörte ich, wie Dad zu Mom sagte, sie solle sich keine Sorgen machen, ich hätte eben einen unsichtbaren Freund. Das hätten die meisten Kinder in meinem Alter und es würde vorübergehen. Mom schüttelte den Kopf. »E r ist einer von ihnen.« Sie klang panisch. »D as spüre ich. Du musst ihn finden und dafür sorgen, dass er unser Kind in Ruhe lässt.«
Von Moms Angst getrieben, war ich ins Zimmer gestürmt, um ihnen zu versichern, dass sie sich keine Sorgen machen mussten. »E r ist nicht böse«, rief ich. »W enn ihr ihn kennen würdet, wüsstet ihr das.«
Dad wechselte einen Blick mit Mom, dann ging er vor mir in die Knie und griff nach meinen Händen. »W arum lädst du ihn nicht einmal zu uns ein? Wir könnten zusammen Kuchen essen und ihn kennenlernen.«
Ich schüttelte energisch den Kopf. »D as geht doch nicht. Er kann nicht zu mir kommen, wir können nur miteinander reden.«
Dad ließ meine Hände so abrupt los, dass ich zusammenzuckte. »I ch kümmere mich darum«, sagte er zu Mom und war aus dem Zimmer, bevor ich mich von meinem Schrecken erholt hatte.
»D ad ist sehr wütend«, hatte ich zu meinem Freund gesagt. »E r sucht nach dir.«
Nach diesen Worten war es, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Ich konnte ihn nicht mehr erreichen. Er antwortete mir nicht länger, weckte mich morgens nicht mehr mit einer leisen Melodie und erzählte mir auch keine Geschichten mehr. Wochenlang herrschte Stille in meinem Geist. Ich fühlte mich entsetzlich einsam und alleingelassen. Nachts weinte ich mich oft in den Schlaf und tagsüber war ich traurig. Als seine Stimme nach
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