Wesen der Nacht
dass ich genau hinhören musste, um alles mitzubekommen.
»I ch habe schon Beth an das Jenseits verloren. Ich will Serena nicht auch noch verlieren.« Schlagartig wurde sie ruhiger. Mit erstickter Stimme und so leise, dass ich Mühe hatte, die Worte zu verstehen, fügte sie hinzu: »D iese Familie hat schon zu viel geopfert.«
Dann war Tante Beth also tot. An das Jenseits verloren. Seit wann drückte Mom sich so blumig aus? Warum sprach sie überhaupt auf einmal über ihre Schwester? Tante Beth war ein Thema, das in unserer Familie totgeschwiegen wurde. Hätte ich nicht vor vielen Jahren zufällig ein Gespräch mitangehört, in dem es um sie ging, hätte ich nicht einmal gewusst, dass es sie je gegeben hatte. Auf meine Fragen bekam ich jedoch nur oberflächliche Antworten und niemand wollte mir erzählen, was für ein Mensch meine Tante gewesen war, was sie gemocht und nicht gemocht hatte. Mehr als einmal hatte ich unsere Wohnung nach alten Fotos durchsucht, ich wollte wenigstens wissen, wie Tante Beth ausgesehen hatte, ob sie Mom oder mir ähnlich gewesen war, aber ich hatte nichts gefunden. Keine Bilder, keine Briefe oder Postkarten, nichts. Offiziell galt sie noch immer als vermisst, nicht als tot. Wussten meine Eltern mehr, als sie Trick und mir verraten hatten? Aber wenn sie wirklich tot war, warum sollte mir dasselbe Schicksal drohen? Ich will Serena nicht auch noch verlieren. Moms Worte ließen mich frösteln. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie von der versuchten Entführung wusste. Das hätte ich mitbekommen, spätestens in dem Moment, in dem sie mich in mein Zimmer gesperrt und den Schlüssel eingeschmolzen hätte. Nein, Mom hatte keine Ahnung. Umso rätselhafter war, was ich eben gehört hatte. Ganz zu schweigen davon, dass es meine Theorie bestätigte: Ich war kein zufälliges Opfer gewesen. Waren wir also doch reich?
»I ch werde nicht weiter mit dir darüber diskutieren.« Mit einem Scheppern landete das schnurlose Telefon auf der Arbeitsplatte.
Ich zog mich einen Schritt zurück und marschierte dann schwungvoll in die Küche, als hätte ich nichts mitbekommen. Mal sehen, ob ich ihr irgendwelche Informationen entlocken konnte. Fragen hatte ich jedenfalls genug. Dummerweise konnte ich keine davon offen aussprechen, wenn ich nicht auf immer und ewig in meinem Zimmer eingemauert werden wollte. »W ar das gerade Dad?«
Mom nickte. »I ch soll dich grüßen«, sagte sie gepresst.
»U nd? Was wollte er?«
Mom drehte mir den Rücken zu. Sie nahm das Telefon und stellte es in die Ladestation, ehe sie sich mit einem Seufzer zu mir umwandte. »E r kann nächstes Wochenende nicht kommen. Er hat zu tun.«
»D as ist nicht euer Ernst!« Dads anstehender Besuch war der einzige Grund gewesen, warum ich die letzten beiden Tage ohne größeren geistigen Schaden überstanden hatte. Zu hören, dass er nicht kommen würde, fühlte sich an, als hätte mir jemand meinen Hockeyschläger über den Schädel gezogen. »M om! Hast du ihm gesagt, dass er nicht kommen soll?«
»W ie kommst du darauf, Serena?« Sie wirkte so überrascht, dass ich ihr sofort glaubte. »D u weißt, dass ich dich niemals von deinem Vater fernhalten würde.«
Zumindest nicht, solange ich nicht darauf drängte, ihn in Duirinish zu besuchen. Mir war heiß und ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ich machte auf dem Absatz kehrt und wollte zurück in den Garten.
»W o willst du hin?«
»R aus«, antwortete ich trotzig, schon auf dem Weg nach draußen.
»I ch möchte, dass du im Haus bleibst.«
Ich blinzelte irritiert. »W as? Warum?«
»E s gibt gleich Essen.« Ihre Antwort war ein wenig zu spät gekommen, um glaubhaft zu klingen. Ganz davon abgesehen, dass die Küche aussah wie geleckt. Nichts deutete darauf hin, dass binnen der nächsten drei Minuten etwas Essbares auf dem Tisch auftauchen würde. Ich setzte zu einem Widerspruch an, doch Mom kam mir zuvor. »M ach inzwischen deine Hausaufgaben.«
»D ie sind schon seit gestern fertig.« Die hatte ich gemacht, als ich wegen der Stimme in meinem Kopf nicht schlafen konnte. Oder wegen der Musik, mit der ich die Stimme übertönte.
»D ann räum eben dein Zimmer auf«, fuhr sie mich an.
Normalerweise hatte sich meine Mutter gut im Griff. Solche Ausbrüche kannte ich nicht von ihr. Aber vielleicht war das meine Chance, ein paar Informationen aus ihr herauszukitzeln. Wenn ich nur ein bisschen weiterbohrte…
»M om?«
Sie wich meinem Blick aus, zog einen Topf aus dem
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