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Wesen der Nacht

Wesen der Nacht

Titel: Wesen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
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war neugierig auf die Menschen. Wollte wissen, wie sie sind. Dein Dad war der Erste, auf den ich stieß, doch er hatte seinen Geist abgeschirmt. Auf der Suche nach einem anderen Geist traf ich auf dich.
    Es war seltsam, wir unterhielten uns seit gerade einmal einer halben Stunde, und trotzdem fühlte es sich an, als hätte es die zehn Jahre Funkstille seit unserem letzten Kontakt nicht gegeben. Cale erschien mir so vertraut, als wäre er die ganze Zeit ein Teil meines Lebens gewesen. Die Wahrheit über ihn zu erfahren und zu wissen, dass er existierte und wirklich mein Freund gewesen war, hatte etwas unglaublich Beruhigendes. Unglücklicherweise spürte ich nicht nur, wie die Anspannung allmählich von mir abfiel, sondern auch meine Erschöpfung und Müdigkeit– jetzt, wo ich nicht mehr ständig auf der Hut vor meinen Wahnvorstellungen sein musste. Meine Glieder fühlten sich mit einem Mal an, als wären sie aus Blei, und meine Augenlider wurden schwer. Blinzelnd kämpfte ich gegen die Müdigkeit an, die mich so schlagartig aus dem Hinterhalt überfallen hatte. »W arum jetzt? All die Jahre warst du still und plötzlich kann ich dich wieder hören?«
    … warst du.
    »W as?« Ich war für einen Moment eingenickt und hatte nur den letzten Teil seiner Antwort gehört. Gähnend rieb ich mir die Augen. »I ch habe dich nicht verstanden. Kannst du das noch einmal sagen?«
    Ich merke, wie mir dein Geist entgleitet. Bist du müde?
    »K ann man so sagen, ja.«
    Dann schlaf jetzt, wir können auch später noch reden.
    Er sagte noch mehr. Seine Stimme hüllte mich ein, warm und tröstend, doch die Worte ergaben keinen Sinn mehr und ich dämmerte sanft in den Schlaf.

11
    Als ich am nächsten Morgen erwachte, fühlte ich mich so gut wie schon seit Tagen nicht mehr. Sicher, ich hatte erfahren, dass Dämonen existierten und dass jemand versuchte, mich in seine Gewalt zu bringen, um meinen Dad zu erpressen. Aber ich war nicht verrückt. Das war mit Abstand das großartigste Geschenk, das ich mir im Augenblick vorstellen konnte. Und ich hatte Cale zurückbekommen.
    Grinsend stand ich unter der Dusche und ließ lauwarmes Wasser über meine Schultern laufen. Er war wieder da und er war– wie ich auch– fast erwachsen geworden. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ein Geistwandler wohl aussehen mochte. Es erschien mir unmöglich, dass jemand mit einer derart sanften Stimme und einem so freundlichen Wesen eine dämonische Fratze haben könnte. So sehr ich mir auch ein Bild von ihm zu machen versuchte, es war immer das Bild eines Jungen in meinem Alter. Blondes Haar, grüne Augen und ein kantiges Gesicht mit einem starken Kinn. Attraktiv, aber nicht süß oder niedlich. Außerdem schlank und drahtig.
    Sobald ich abgetrocknet war, legte ich das Lederband mit Gus’ Stein um. Im Gegensatz zu gestern fühlte es sich kühl an. Keine Jenseitswesen in der Nähe. Hier in meinem eigenen Schlafzimmer eines zu spüren, hätte ich auch mehr als beunruhigend gefunden. Andererseits war letzte Nacht durchaus jemand hier gewesen. Ich hatte nicht bewusst darauf geachtet, war aber überzeugt, dass es mir aufgefallen wäre, wenn sich der Stein erwärmt hätte. Dass er das nicht getan hatte, bedeutete wohl, dass Cale zu weit fort war und dass ein Verschmelzen unserer Gedanken nicht ausreichte, um den Stein aufzuheizen. Oder Übelkeit auszulösen, wenn ich die Kette nicht trug. Worüber ich ausgesprochen erleichtert war. Nicht auszudenken, wenn der Junge, den ich in meiner Vorstellung ausgesprochen anziehend fand und dessen Stimme ich so mochte, bei mir unweigerlich Brechreiz auslösen würde.
    Mein Grinsen wurde breiter. Binnen weniger Stunden war er von einer Wahnvorstellung zu einem Typen, dann zu einem Teil meiner Vergangenheit und schließlich zu einem Jungen geworden, der mir gefiel. Wenn es in diesem rasenden Tempo weiterging, würden wir nächste Woche nach Las Vegas durchbrennen und heiraten. Ich zumindest, denn ich wusste nicht, ob er ähnlich über mich dachte oder ob er einfach nur freundlich gewesen war. Aber er hatte gesagt, dass er mich mochte.
    »E r mochte dich als Fünfjährige«, murmelte ich. »D as heißt noch nicht, dass er dich als Teenager ebenfalls gut findet.« Ich schüttelte den Kopf und versuchte mir meine Zweifel auszureden.
    Ich verbrachte ein gut gelauntes Frühstück mit Mom und ließ geduldig ihren Abschiedskuss über mich ergehen, als sie mit dem Laptop unter dem einen und der Aktentasche unter dem anderen Arm aus dem

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