Wesen der Nacht
schien meinen Gedanken aufgefangen zu haben, denn er lachte leise. Ein warmer Laut, der mir einen angenehmen Schauder über den Rücken jagte. Plötzlich fühlte ich mich schutzlos, wie ich so da lag, allein in meinem Bett, im Gespräch mit jemandem, der– zumindest in meiner Vorstellung– ein Junge war. Ich setzte mich auf und wickelte mir trotz der Wärme die Decke um die Schultern.
»G eistwandler«, wiederholte ich und versuchte mich an das Wort zu gewöhnen. »I st das der Grund, warum du in meinem Kopf bist?«
Ich kann mich in den Geist eines anderen versetzen und mit ihm kommunizieren. So wie wir es früher getan haben. Wir waren Freunde. Erinnerst du dich?
»D er beste Freund, den ich hatte«, sagte ich sehr leise.
Er hörte es trotzdem. Du hast mir gefehlt.
Das konnte ich leider nicht behaupten. Immerhin hatte ich bis eben noch befürchten müssen, dass ich seine Stimme nur aufgrund einer Fehlschaltung in meinem Gehirn hören konnte und sein Auftauchen nichts Gutes für meine geistige Gesundheit zu bedeuten hatte. Erst jetzt, wo ich mir zum ersten Mal seit beinahe zehn Jahren gestattete, mich ohne Angst an ihn zu erinnern, erinnerte ich mich auch an den Spaß, den wir gehabt hatten. Und an die Geschichten, die er mir erzählt hatte. Über Monster und Tiere, endlose Wiesen und Wälder und wunderbare Abenteuer. Selbst als Fünfjährige hatte ich das alles nur für Geschichten gehalten. Jetzt aber fragte ich mich, wie viel Wahrheit über seine Heimat in diesen Erzählungen gesteckt haben mochte.
»D u warst damals auf der anderen Seite des Tors, im Jenseits.«
Es ist uns verboten durch das Tor zu gehen, deshalb konnte ich nur auf diese Weise mit dir in Kontakt treten.
»W arum?«
Warum was?
»W arum bist du überhaupt mit mir in Kontakt getreten?«
Ich war allein und neugierig und du warst nett. Ich mochte dich.
Ich mochte dich auch. Zu spät wurde mir bewusst, dass er den Gedanken vermutlich ebenso gelesen hatte wie alle anderen. Bei der Vorstellung, dass jemand in meinem Gehirn herumstochern und meine geheimsten Geheimnisse daraus lesen konnte, wurde mir ganz anders. »S iehst du in mein Gehirn? Kannst du alle meine Gedanken lesen? Weißt du, was…?«
Beruhige dich. Er machte eine kurze Pause, als suche er nach den passenden Worten, um seine Fähigkeit zu erklären. Ich kann nur die Gedanken auffangen, die du an mich richtest. Alles andere, was ich in deinem Geist erkenne, sind Dinge, die ich eher spüren als hören kann. Zum Beispiel spüre ich, dass du aufgeregt bist. Und aus irgendeinem Grund auch erleichtert. Aber ich kann die dazugehörigen Gedanken nicht lesen, solange sie nicht für mich bestimmt sind.
»D amals dachten alle, ich sei verrückt. Sie hielten dich für ein Hirngespinst und haben mich mit Medikamenten vollgestopft, die mir gegen die Wahnvorstellungen helfen sollten.«
War das der Grund, warum ich dich plötzlich nicht mehr erreichen konnte? Diese Medikamente?
»J a.« Das, und die Tatsache, dass ich mir Mühe gegeben hatte, seine Stimme aus meinem Kopf zu verdrängen– bis sie schließlich wirklich verstummt war. Er musste seine Versuche, zu mir durchzudringen, irgendwann aufgegeben haben. »W enn es dich gibt, verstehe ich nur nicht, warum Dad dich nicht gefunden hat. Hätte er…« Ich schluckte die Worte als Torwächter herunter. »… nicht auf den Gedanken kommen müssen, dass ich gar nicht verrückt bin?«
Das ist er. Er kam sogar auf die andere Seite des Tors, um nach mir zu suchen.
Da begriff ich, dass ich mir das alles selbst eingebrockt hatte. »A ber du warst fort. Ich hatte dich gewarnt, dass Dad nach dir sucht.«
Es tut mir leid, dass du meinetwegen so viel durchmachen musstest. Das wollte ich nicht. Ich wollte nur verhindern, dass ich den Zorn des Torwächters auf mich ziehe, weil ich mit seiner Tochter spreche.
Erleichtert nahm ich zur Kenntnis, dass er durchaus wusste, wer mein Vater war. Ein Geheimnis weniger, das ich hüten musste. »W as wäre passiert, wenn er dich gefunden hätte?«
Ich hätte eine Menge Ärger bekommen, denn damals war es mir verboten, mich in der Nähe des Tors aufzuhalten. Wahrscheinlich hätte dein Dad mir außerdem den Kontakt zu dir verboten. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte meine beste Freundin nicht verlieren. Den einzigen Menschen, den ich wirklich mochte. Aber irgendwie habe ich dich dann trotzdem verloren.
Seine letzten Worte klangen traurig. »W arum hast du damals überhaupt Kontakt zu mir aufgenommen?«
Ich
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