Wesen der Nacht
Hause sein sollen. »W ir haben die Zeit vergessen. Ich war selbst überrascht, als sie uns plötzlich aus der Bibliothek gekehrt haben, weil sie dichtmachen wollten.«
»S pätestens da hättest du anrufen sollen.«
»T ut mir leid.« Normalerweise hätte ich jetzt wieder einmal eine Diskussion zum Thema Freiräume und gluckende Mütter angefangen. Vielleicht hätte ich das sogar tun sollen, allein schon, um zu verhindern, dass Mom meine Freiheiten immer weiter einschränkte, doch mein Kopf war so voll mit Informationen, dass ich unmöglich auch noch ein Streitgespräch vom Zaun brechen und mich dabei auf meine Argumente konzentrieren konnte. Ganz zu schweigen davon, dass ich zum ersten Mal Verständnis für Mom hatte. Immerhin wusste ich jetzt, warum sie sich benahm, wie sie sich eben benahm.
»W ie siehst du überhaupt aus?«
Oh Scheiße, die Sportklamotten! Die hatte ich vollkommen vergessen. »W ir hatten in der letzten Stunde Sport und ich habe mich danach nicht mehr umgezogen.«
Ich holte mir eine Tüte O-Saft aus dem Kühlschrank und schenkte mir ein Glas ein. Nur zu gerne hätte ich Mom auf das Jenseits angesprochen, traute mich aber nicht, nachdem sie sich gestern am Telefon so heftig dagegen gewehrt hatte, mir die Wahrheit zu sagen. Sie würde mir vermutlich nur ausweichen und behaupten, nichts zu wissen. Oder Gus den Kopf abreißen, weil er mich in alles eingeweiht hatte.
Deshalb entschied ich mich erst einmal für den indirekten Weg, um zu sehen, wie weit er mich bringen würde. Ich setzte mich auf die Arbeitsplatte und trank einen Schluck Saft. »G laubst du eigentlich an Übernatürliches?«
Mom, die sich wieder dem Bildschirm ihres Laptops zugewandt hatte, sah auf. »I st das dein Versuch, davon abzulenken, dass du hier in durchgeschwitzten Sportklamotten sitzt?«
»W ir haben heute in der Schule darüber gesprochen«, sagte ich ungerührt. »W ir nehmen gerade den Schauerroman durch, und da kam natürlich die Frage auf, ob all diese Geschichten einen wahren Kern haben könnten. Du weißt schon, Spukgeschichten, Vampire, Dämonen und so ein Zeug.«
Moms Züge entgleisten für einen Moment. Ein kurzer Augenblick, in dem alles an ihr die Antwort geradezu herauszuschreien schien. Ja, es gibt sie! Sie existieren! Aber ich will nicht, dass du das weißt! Sie hatte sich sofort wieder im Griff. Lediglich ein Stirnrunzeln blieb und verriet, was sie von dem Thema hielt. »M eine Güte, für Pepper muss der Unterricht das Paradies auf Erden sein.« Natürlich wusste sie von Peppers Vorliebe für Vampirgeschichten. Kein Wunder, wenn man bedachte, wie oft meine beste Freundin schon versucht hatte, Mom dazu zu bringen, wenigstens einen einzigen Sergej-Darkov-Roman zu lesen.
»W as denkst du, Mom?«, bohrte ich weiter. Ich war nicht bereit, sie mit einem Themawechsel so einfach davonkommen zu lassen. »S ag schon, ich brauche deine Antwort für eine Hausaufgabe. Wir sollen mehrere Leute in unserem Umfeld befragen, wie sie zu dem Thema stehen, um herauszufinden, wie tief der Aberglaube in unserer Gesellschaft verwurzelt ist.« Mein Gott, war ich stolz, dass mir das eingefallen war. Mom konnte unmöglich verweigern, mir bei einer Hausaufgabe zu helfen!
»W as ich glaube, ist, dass Menschen versuchen, sich Dinge, die sie nicht verstehen oder für die sie keine Verantwortung übernehmen möchten, auf diese Weise zu erklären. An Übernatürliches glaube ich nicht.«
War ja klar, dass sie nicht plötzlich mit der Wahrheit rausrücken würde, nur weil ich etwas über Gruselgeschichten wissen wollte. Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, sie doch noch mit meinem Wissen zu konfrontieren, verwarf ihn aber sofort wieder. Zum einen würde sie sowieso nur auf stur schalten und weiterhin alles verleugnen. Zum anderen würde sie vermutlich endgültig in den Tentakelmom-Modus umschalten, sobald sie herausfand, dass ich Bescheid wusste. Dad war in dieser Hinsicht erst einmal der bessere Ansprechpartner.
Ich ging nach oben, um mich umzuziehen, und half Mom dann, das Abendessen zu machen. Irgendwie brachte ich es fertig, während des Essens nicht damit herauszuplatzen, was ich heute erfahren hatte. Stattdessen erzählte ich belangloses Zeug aus der Schule. Sobald der Abwasch erledigt war, verzog ich mich in mein Zimmer und rief Dad an. Ich erreichte ihn schon wieder nicht. Ebenso wenig wie Trick. Bei beiden ging nur die Mailbox ran und ich hinterließ jedes Mal dieselbe Nachricht: »I ch weiß Bescheid. Ruft
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