Wesen der Nacht
mich an.«
Auch an diesem Abend bekam ich keinen Rückruf. Das war nicht weiter ungewöhnlich, es dauerte oft mehrere Tage, bis Dad oder Trick sich meldeten. Meistens war eine mehrtägige Tour durch das Naturschutzgebiet der Grund– das hatten sie zumindest immer behauptet. Inzwischen wusste ich, was dahintersteckte. Offenbar trafen sie sich auf diesen angeblichen Touren mit dem Rat, um Bericht zu erstatten, oder gingen die Gegend ab, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Für gewöhnlich machte es mir nichts aus, auf ihren Rückruf zu warten. Heute konnte ich meine Ungeduld allerdings nur schwer im Zaum halten.
Nachdem ich geduscht, mich umgezogen und meine Hausaufgaben erledigt hatte, lag ich auf dem Bett und zappte durch das Fernsehprogramm, ohne etwas zu finden, das meine Gedanken vom Jenseits ablenken konnte. Schließlich gab ich auf. Ich schaltete den Fernseher ab, warf die Fernbedienung auf den Schreibtisch und ließ mich wieder in die Kissen sinken.
Bilder von Vampiren und Dämonen, die in einer ewig dunklen, kargen Welt lebten, schossen mir durch den Kopf, wobei ich jede Fratze aus jedem Horrorfilm, den ich je gesehen hatte, vor meinem geistigen Auge aufblitzen sah. Sogar Chucky, die Mörderpuppe.
Prinzessin?
Das durfte doch nicht wahr sein! Ich war so in meine Gedanken versunken gewesen, dass ich die Stimme ebenso vergessen hatte wie die Tatsache, dass ich meinen Geist vor ihr abschotten musste. Am besten mit lauter Musik.
Bist du da?
Der Typ ließ einfach nicht locker! Ich war im Begriff, nach meinem iPod zu greifen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne, als mir bewusst wurde, was ich gerade gedacht hatte. Typ. Nicht Wahnvorstellung. Was, wenn diese Stimme gar keine Halluzination war? Wenn sie wirklich existierte? Wäre sie Einbildung, müsste sie doch klingen wie damals, oder? Seine Stimme hatte sich aber verändert, klang nicht mehr so glockenhell wie früher, sondern warm und dunkel. Erwachsener. Was, wenn er…?
Er.
Zum ersten Mal, seit ich die Stimme vor ein paar Tagen vernommen hatte, wagte ich es, den dazugehörigen Namen in mein Bewusstsein dringen zu lassen, etwas, was ich mir bisher untersagt hatte, aus Angst, die Wahnvorstellung könne dadurch realer werden. Und ich wagte noch mehr.
» Cale?«
Eine Welle der Erleichterung durchflutete mich. Erleichterung, die nicht von mir kam, sondern wie aus einem anderen Bewusstsein durch meinen Körper zu strömen schien. Du erinnerst dich an mich?
Plötzlich fügten sich alle Puzzleteile zusammen. Ich war nicht verrückt. War es nie gewesen. Cale existierte und er war ein Jenseitswesen. Jemand, der die Grenze zu unserer Welt nicht überschreiten konnte, der es aber irgendwie geschafft haben musste, seine Stimme in meinen Kopf… Oder ich war doch einfach gestört.
»I ch bin mir nicht sicher.« Ich sprach die Worte leise aus, obwohl er mir bereits heute Vormittag zu verstehen gegeben hatte, dass meine Gedanken ausreichen würden. »E xistierst du wirklich? Oder bilde ich mir das nur ein?«
Ein leises Lachen erfüllte meinen Geist. Ich bin so echt, wie ich nur sein kann.
Ich schloss die Augen, unschlüssig, ob ich vor Erleichterung lachen oder weinen sollte. Nicht nur, dass ich nicht verrückt war, ich hatte auch meinen Freund von damals wiedergefunden. Jenen Freund, den ich so lange so sehr vermisst hatte, bis ich schließlich überzeugt gewesen war, dass es ihn nie gegeben hatte. Noch immer zweifelnd, atmete ich tief durch und kämpfte gegen den Gedanken, dass sich alles doch noch als Einbildung herausstellen könnte.
»D u bist ein Jenseitswesen.« Ich wagte es nicht, meine Worte als Frage zu formulieren, aus Angst, er könne mit einem Nein darauf antworten. Und das wollte ich einfach nicht hören.
Du musst mir wirklich nicht laut antworten.
»E s fühlt sich aber besser an.«
Aber wohl auch nur, solange du allein bist.
Ich glaubte zu spüren, dass er grinste. Zumindest bildete ich mir das ein. »W enn ich nicht allein bin, werde ich dir nicht mehr antworten.« Was ich bis gerade eben ohnehin nicht getan hatte. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich es in Zukunft tun würde oder ob dies unsere einzige Unterhaltung bleiben sollte. »W as ist nun?« Ich zögerte einen Moment, ehe ich die Frage aussprach, die mir auf der Zunge brannte– und vor deren Antwort ich mich am meisten fürchtete: »B ist du ein Dämon?«
Man nennt meinesgleichen Geistwandler.
Das erklärte dann wohl, warum ich ihn in meinem Geist hören konnte.
Er
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