Wesen der Nacht
Kompensationsmittel zu sein. Ich fragte mich, ob ihre Unruhe noch immer von dem Streit mit Dad herrührte, wusste jedoch, dass es sinnlos war, sie darauf anzusprechen. Zum ersten Mal war es Mom, die mir auswich und sich abkapselte. Und zum ersten Mal wünschte ich mir mehr von ihrer alles beherrschenden Gegenwart.
14
Am Dienstagnachmittag, etwas mehr als eine Woche, nachdem ich mich zum ersten Mal mit Gus in der Sporthalle getroffen hatte, gingen mir im Training allmählich die Fragen aus, zumindest jene, die ich mit jemand anderem als Dad oder Cale besprechen wollte. Endlich konnte ich mich ganz auf meine Technik konzentrieren. Mit jeder weiteren Stunde, die ich unter Gus’ wachsamen Blicken verbrachte, ihn angriff und mich mühelos von ihm abwehren lassen musste, geriet mein Wunsch, Jägerin zu werden, ein wenig mehr ins Wanken. Ganz egal, was Gus sagte– er wollte mir Mut machen und mich nicht demotivieren–, ich war nicht sonderlich gut darin, mich im Kampf zu behaupten. Aber genau das war es doch, was ein Jäger Tag für Tag tun musste: gegen diese Kreaturen kämpfen. Zumindest vermutete ich das. Vielleicht war meine Vorstellung auch zu abenteuerlich und der größte Teil ihres Tages bestand darin, Spuren zu folgen, Hinweise zu erkennen und auf langwierige und langweilige Weise nach diesen Wesen zu suchen. Trotzdem war ich mir sicher, dass es nicht ohne Kämpfe ablief. Vielleicht würde ich mich mit Waffen besser anstellen als im Nahkampf. Allerdings bezweifelte ich, dass Gus mir in den nächsten Monaten irgendeine andere Waffe in die Hand geben würde. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er es überhaupt jemalstun würde. Er schien voll und ganz auf meine Fähigkeiten und den Elektroschocker in meiner Tasche zu vertrauen. Dass er mich nicht im Umgang mit Pfeil und Bogen unterrichten würde, hatte er mir bereits unmissverständlich klargemacht. Ich hatte ihn nach einer Pistole gefragt, woraufhin er mich mit diesem Alter-Haudegen-Blick angesehen hatte, bis mir ganz anders geworden war, und mir dann erklärt hatte, dass dies nicht die Vereinigten Staaten waren, wo jeder mit einer Knarre im Stiefel herumlaufen und wild um sich schießen konnte. Eine Beschreibung, bei der ich mich zu fragen begann, wie alt er tatsächlich war, denn ich hätte gewettet, dass die Leute zu der Zeit, als das üblich war, noch auf Pferden geritten waren, liberale Waffengesetze hin oder her. Also hatte ich mich auf die Frage nach Pfeil und Bogen verlegt.
»D u sollst dich im Notfall verteidigen können«, hatte er gebrummt. »N icht in den Krieg ziehen.«
Immerhin machte ich ein paar Fortschritte. Als es mir das erste Mal gelang, ihn tatsächlich zu treffen, ging er dazu über, mir zunächst in seiner menschlichen Gestalt gegenüberzutreten und dann plötzlich als Wolf, Bär oder Löwe auf mich loszugehen. Seine Verwandlung ging schnell und geräuschlos vonstatten und der Anblick war noch immer so unglaublich atemberaubend, dass ich anfangs gar nicht anders konnte, als stehen zu bleiben und ihn wie gebannt anzustarren. Meistens so lange, bis die Veränderung seines Körpers abgeschlossen war und er mich angriff. Auf diese Weise handelte ich mir unzählige Prellungen und Blutergüsse ein, die mich lehrten, schneller zu reagieren und nicht jedes Mal in Ehrfurcht zu erstarren, sobald er sich verwandelte. Nach dem ich das kapiert und gelernt hatte, den Schreck und die Angst vor dem wilden Tier zu überwinden, wurde es weniger schmerzhaft für mich.
Die Stunde ging schnell zu Ende. Gus hatte sich gerade wieder von einem Bären zurück in einen Menschen verwandelt und half mir auf die Beine (natürlich war ich wieder diejenige gewesen, die am Ende des Kampfes auf dem Hintern gelandet war), als ich Pepper in der Tür stehen sah.
Wir waren verabredet. Sie wollte noch mit zu mir kommen, als Alibi für Mom und um endlich mal wieder ein wenig Zeit mit mir zu verbringen, nachdem wir uns während der letzten Woche nur selten gesehen hatten. Entweder hatte sie arbeiten oder ich trainieren müssen.
Gus warf mir einen Blick zu. »I ch schätze, du kommst heute allein nach Hause, oder?«
Als ich nickte, ging er an Pepper vorbei aus der Halle. Sie stand noch immer vollkommen reglos da, ihre Augen so groß wie Untertassen. Schnell schnappte ich mir meine Tasche und ging zu ihr.
»S eit wann bist du so pünktlich?«, zog ich sie auf.
Pepper starrte noch immer an die Stelle, an der sie Gus und mich zuerst gesehen hatte. Ihr Puppengesicht war
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