Wesen der Nacht
sie mich nur derart unvorbereitet aufwachsen lassen können? Wieder bekam ich eine schreckliche Wut auf Mom. Aber das half mir jetzt auch nicht weiter. Was konnte ich also tun? Mir eine Pistole kaufen? Personenschutz organisieren? Mit Mom sprechen? Nichts davon kam wirklich infrage. Ich hatte Gus’ Elektroschocker und würde lernen, mich selbst zu verteidigen. Das musste genügen, bis ich mit Dad über alles reden konnte.
In den folgenden Tagen verbrachte ich die meisten Nachmittage mit Gus in der Sporthalle, wo er mich jetzt tatsächlich in den Grundlagen der Selbstverteidigung unterwies. »E s ist keine bestimmte Kampfsportart«, sagte er auf meine Frage hin. »E her eine Art Freistil. Ein Mix aus den nützlichsten und am leichtesten anzuwendenden und erlernbaren Techniken. Um die Feinheiten kümmern wir uns später.«
Also lernte ich in erster Linie zu brüllen, sobald jemand in meine Nähe kam. Laut Nein zu schreien und Leuten in die Eier zu treten. Gus schien ganz versessen darauf, mir das beizubringen, denn in seinen Augen war es die beste Möglichkeit für ein Mädchen, sich zu wehren. Andere Techniken zielten auf die Augen eines Angreifers und auf seine Knie. Am schwierigsten für mich war es, zu lernen, jemanden mit der festen Absicht anzugreifen, ihn auch zu verletzen. Das hatte ich noch nie getan und der Gedanke, einem anderen ernsthaft Schaden zuzufügen, behagte mir nicht. »S ie wollen dir wehtun«, erinnerte Gus mich jedes Mal, sobald er mein Zögern bemerkte. »D u verteidigst dich nur. Sie zwingen dich dazu und sie sind keinesfalls wehrlos und unschuldig. Das darfst du nie vergessen.«
Tatsächlich wiederholte ich seine Worte im Geist immer und immer wieder, in der Hoffnung, dass sie sich irgendwo in mir festsetzen und mir helfen würden, wirklich zuzuschlagen, wenn es hart auf hart kam. Oder Knie auf Weichteil.
Du verteidigst dich nur. Ich wünschte, Mom hätte mich schon vor Jahren zu einem Selbstverteidigungskurs angemeldet, dann müsste ich mich jetzt nicht so quälen. Warum hatte sie das nie getan? Gerade weil sie von allen Seiten Gefahr zu wittern schien, war das einigermaßen merkwürdig. Andererseits passte es zu ihrem Verhalten. Offenbar hatte sie sich entschieden, die Existenz des Jenseits weitestgehend zu leugnen und mich lieber einzusperren, statt dafür zu sorgen, dass ich mich wehren konnte. Das war ihre Art, mich zu beschützen. Leider nicht besonders effektiv, wenn ich an letzte Woche dachte. Die Begegnung mit Gus war in jeder Hinsicht ein Glücksfall für mich.
Während unserer Übungen, oder auch danach, beantwortete er geduldig meine Fragen nach dem Jenseits, wobei sein Augenmerk in erster Linie darauf gerichtet war, mir einzutrichtern, dass ich mich von den Toren fernhalten und keinen Kontakt zu Jenseitswesen suchen sollte. Besonders Dämonen waren gefährlich, trichterte er mir ein. »S ie manipulieren einen und verfolgen dabei nur ihre eigenen Ziele.«
»W as ist mit Ihnen?«, keuchte ich, nachdem ich einer Reihe seiner Angriffe ausgewichen war und mehrmals vergeblich versucht hatte, ihm einen Tritt zu verpassen. Der Mann sah alt aus, doch er war unglaublich schnell. Zu schnell für mich und auch schneller als ein gewöhnlicher Mensch, den ich längst mit meinen Tritten getroffen hätte. »M üsste ich Ihnen nicht auch aus dem Weg gehen?«
»I m Moment versuchst du ja, mich abzuwehren«, sagte er grinsend. »A llerdings bin ich kein Dämon. Außerdem arbeite ich für den Rat.«
»W oher soll ich wissen, dass das die Wahrheit ist und keine Manipulation? Haben Sie einen Dienstausweis?«
Lachend wich er einem weiteren Tritt von mir aus. Vom Schwung meines eigenen Angriffs mitgerissen, geriet ich ins Wanken. Gus streckte die Hand aus und tippte mir gegen die Schulter. Die kurze Berührung genügte, um mich vollends aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ich landete auf dem Hintern.
Fluchend ergriff ich seine ausgestreckte Hand und ließ mich von ihm wieder auf die Beine ziehen. »I ch werde das nie hinbekommen.«
Er schüttelte den Kopf. »D u bist gut, Mädel. Schneller, als die meisten– nur eben nicht so schnell wie ich. Wenn es dir gelingt, mich zu erwischen, wirst du mit einem Menschen sicher keine Schwierigkeiten haben.«
»W issen Sie, was ich mich frage?« Ich begann, ihn langsam zu umkreisen. Meine Arme taten mir weh, ebenso wie mein Hintern, trotzdem weigerte ich mich, aufzugeben. Ein Muskelkater und ein paar blaue Flecken würden mich nicht davon abhalten, das
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