Wesen der Nacht
ich ihr gar nichts verheimlichen. Es fiel mir nur unglaublich schwer, über ihn zu sprechen. Heute hatte ich es mir vorgenommen, aber nachdem ich gesehen hatte, wie sie auf Gus reagierte… Andererseits standen die Chancen nun besser, dass sie mich nicht für verrückt hielt und Cale als eine Halluzination abtun würde. Während unserer Unterhaltung wurde mir allerdings schnell klar, dass sie immer noch an Gus’ Verwandlung zu kauen hatte. Also verschob ich das Thema Cale erst einmal auf morgen.
15
Nachdem Pepper gegangen war, aß ich mit Mom zu Abend und verzog mich dann auf mein Zimmer. Das Training war anstrengend gewesen und nach der heißen Dusche war ich so müde, dass ich mich am liebsten sofort unter meiner Bettdecke zusammengerollt hätte. Um nicht sofort einzuschlafen, setzte ich mich aufrecht aufs Bett, mit dem Rücken an die Wand gelehnt.
» Cale? Bist du da?« Ich hatte mich schon den ganzen Tag danach gesehnt, seine Stimme zu hören, und mich beherrschen müssen, ihn nicht schon während des Unterrichts zu kontaktieren. Je mehr ich mich mit ihm unterhielt, desto wichtiger schien er mir zu werden und desto mehr vermisste ich ihn, wenn ich keine Gelegenheit hatte, mit ihm zu reden. Seine beruhigende Stimme, seine Freundlichkeit, die Ruhe, die er mir gab. Die Chemie zwischen uns stimmte einfach und immer mehr wünschte ich mir, ihn sehen zu können.
» Cale?«, wiederholte ich, als er nicht sofort reagierte. Noch zweimal rief ich seinen Namen, doch in meinem Kopf blieb es still. Ich bekam es mit der Angst zu tun. » Cale? Wo bist du?«
Prinzessin?
Ich atmete auf, als seine Stimme mich mit ihrer Wärme erfüllte. Einen Moment lang hatte ich tatsächlich gedacht, ich hätte ihn verloren. Würde ich es merken, wenn sie ihn abholten? Wäre ich dann noch in der Lage, ihn zu erreichen, oder er mich? Die Vorstellung, dass er plötzlich nicht mehr da sein könnte, versetzte mir einen Stich. »I st alles in Ordnung?«
Er zögerte. Alles bestens.
»E s hat lange gedauert, bis du geantwortet hast.« Du meine Güte, ich hörte mich schon an wie meine Mutter. Er saß in einer Kiste fest, wo sollte er schon hin? »I ch habe mir Sorgen gemacht, ich dachte schon, sie hätten dich fortgebracht.«
Nein, hier ist niemand aufgetaucht. Es fällt mir nur schwerer, mich auf die Verbindung zwischen uns zu konzentrieren. Du bist weit weg und es kostet mich Kraft, eine derart große Entfernung zu überwinden.
»D as ist nicht alles, oder?« Ich spürte, dass da noch etwas war, etwas, das er mir nicht sagte. Seine Stimme klang anders, angestrengt und leiser als gewöhnlich. Weiter entfernt.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt.
»D ann kommen sie dich holen?« Eine Weile blieb er stumm, als würde er nach einer Antwort suchen. Dieses Schweigen beunruhigte mich und es kostete mich einiges an Selbstbeherrschung, nicht sofort nachzubohren.
Entweder das, oder ich werde sterben.
Sterben? Schlagartig war ich wieder hellwach. »W ie meinst du das? Das ist… mein Dad…«
Meine Kraft geht zur Neige. Ich kann nicht zu lange von meiner Welt entfernt sein. Diese Wände hier verhindern, dass ich das Jenseits spüren kann. Ich verliere nach und nach meine Lebensenergie und weiß nicht, wie lange ich noch … es fällt mir schwer, dich über diese Distanz noch zu erreichen.
Das war schlimmer als alles, was ich mir ausgemalt hatte. Keine Auslieferung. Kein Verkauf. Der Tod. Einfach so, nur weil er schon viel zu lange in dieser dummen Kiste festsaß. Seine Worte machten mir Angst und verfolgten mich noch lange nach unserem Gespräch. Selbst im Schlaf beschäftigte mich meine Sorge um ihn, bescherte mir wilde Träume über einen blonden Jungen, eingepfercht in eine viel zu kleine Kiste, dessen Kräfte immer weiter dahinschwanden, bis nur noch eine leblose Hülle blieb. Am Morgen erwachte ich in dem Bewusstsein, etwas unternehmen zu müssen.
Nach der Schule schleppte ich Pepper noch einmal ins Edgington’s. Erst hatten wir zu mir gehen wollen, aber man konnte nie wissen, ob Mom nicht früher aus der Redaktion kam, und es musste ein Ort sein, an dem wir uns in Ruhe unterhalten konnten.
Ich machte mir Sorgen um Cale, der irgendwo festsaß und womöglich sterben würde, nur weil ich nicht in der Lage war, ihn da rauszuholen. Oder zumindest dafür zu sorgen, dass diese verdammte Übergabe endlich stattfand. Unglücklicherweise hatte ich nur eine ungenaue Vorstellung davon, wie ich ihm helfen konnte. Ich brauchte ein
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