Wesen der Nacht
dazu, einen Weg einzuschlagen, von dem er anderen abriet, sie sogar davor warnte?
»A ls ich neun war, wurde meine Mutter von einem Dämon getötet.« Seine Stimme war vollkommen ausdruckslos, ebenso seine Züge. Lediglich ein dunkles Glimmen in seinen Augen ließ die Mischung aus Trauer und Hass ahnen, die in ihm loderte. »E s war in dem Sommer, nachdem du weggegangen bist. Eines dieser Monster hatte es durch das Tor geschafft. Mein Dad hat sich auf die Suche nach ihm gemacht. Eine Woche lang hat er das Ungetüm verfolgt, ehe er sich eingestehen musste, dass er die Spur verloren hatte, und sich auf den Heimweg machte. Doch der Dämon war ihm nicht entkommen. Er hatte in einem Versteck ausgeharrt, bis Dad aufgab, und folgte ihm nach Hause. Er hätte Dad angreifen, ihn vielleicht sogar töten können. Stattdessen wartete er, bis Dad das Haus wieder verließ, und griff Mom und mich an. Mom war sofort tot, zerfetzt von diesen riesigen, scharfen Klauen, und um mich wäre es ebenfalls geschehen gewesen, wenn Dad nicht zurückgekommen wäre. Es war nur ein Gefühl, das ihn zum Umkehren bewegt hatte. Eine dumpfe Ahnung, dass etwas nicht stimmte. Er hat dem Dämon den Schädel weggeblasen, bevor er mich erwischen konnte.« Derek schluckte. »M anchmal habe ich immer noch das Gefühl, sein Blut zu spüren, das sich wie Säure in meine Haut frisst.«
Er schob den Ärmel seines Shirts zurück und zeigte mir ein dünnes Netz aus hellen Narben, das sich wie ein Geflecht über seinen Handrücken, den Arm entlang, weiter nach oben zog. Ehe ich wusste, was ich tat, streckte ich die Hand aus. Vorsichtig berührte ich seinen Arm. Derek zog ihn nicht zurück, er zuckte nicht einmal, als meine Finger vorsichtig über die rauen Narben strichen. Ich hatte erst später erfahren, dass seine Mutter gestorben war, und da hatten sie mir erzählt, dass es ein Autounfall gewesen sei, der sie das Leben gekostet hatte. Meine Finger wanderten seinen Arm wieder nach unten. Als sie seinen Handrücken erreichten, drehte Derek die Hand und schloss seine Finger um meine.
»E s ist okay«, sagte er leise. »I ch habe gelernt, damit zu leben.«
Er drückte meine Hand noch einmal kurz, dann gab er sie frei und zog seinen Ärmel wieder zurecht. »V ielleicht verstehst du jetzt, warum ich Jäger geworden bin und warum ich nicht möchte, dass du denselben Weg gehst.«
Seine Sorge um mich hatte etwas Rührendes. Während des Trainings mit Gus hatte ich ja selbst darüber nachgedacht, wie gefährlich es sein konnte. Trotzdem wollte ich dazu beitragen, diese Kreaturen unter Kontrolle zu halten. Einerseits sah ich darin eine Form von Rache, andererseits eine Möglichkeit, unsere Familie wieder zusammenzubringen.
Schweigend durchsuchten wir den Rest des Schreibtischs, blätterten uns durch die Ordner im Regal und sahen uns in Tricks Zimmer und auf seinem Laptop um. Nirgendwo fanden wir etwas, was uns weitergeholfen hätte.
»K önnten sie drüben sein? Im Jenseits?«, fragte ich, als wir schließlich wieder in der Küche standen. Einen Moment lang war ich versucht, ihm von Cale zu erzählen, wagte es jedoch nicht. Immerhin war Derek ein Jäger– und Cale ein Jenseitswesen, das in seinen Augen hier nichts zu suchen hatte. »W enn sie etwas gefangen haben, müssten sie ihren Fang doch auch übergeben, oder?«
»D as müssen sie«, stimmt er zu. »A llerdings braucht es dazu keine zwei Wochen. So eine Übergabe ist eine Sache von ein paar Tagen. Nachricht ans Jenseits schicken, Termin ausmachen. Kiste aushändigen. Fertig.« Er schüttelte den Kopf. »N ein, das ist keine schlüssige Erklärung. Abgesehen davon habe ich heute mit meinem Dad gesprochen. Ich wollte dich vorhin nicht beunruhigen, immerhin warst du schon erschrocken genug, aber ich bin nicht ganz ohne Grund hergekommen.«
Ich zog eine Augenbraue in die Höhe. »S ieht so aus, als würde das hier noch ein bisschen länger dauern. Willst du etwas trinken? Hast du Hunger?« Je länger er blieb, desto mehr konnte er mir erzählen, über Dad und Trick, und über das Tor und das Jenseits.
»W enn es keine Umstände macht.«
Umstände waren ausgeschlossen angesichts der Vorratslage. Aber wenigstens hatte ich vorhin hinter dem schimmligen Toast eine Dose Ravioli gesehen. Derek holte zwei Gläser aus dem Hängeschrank und füllte sie mit Wasser, während ich einen Topf suchte und die Ravioli hineinkippte. »O kay«, sagte ich, sobald ich den Herd angestellt hatte. »W as war der Grund? Warum bist du
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